München. Bundestrainer Joachim Löw gibt sich bei seiner Analyse selbstkritisch. Eine Revolution bekommt die Öffentlichkeit aber nicht geboten.
Man konnte glauben, dass eine neue Zeitrechnung im deutschen Fußball angebrochen ist. Dass nach dem Kollaps bei der WM ein völlig neuer Geist Einzug erhalten hat beim Deutschen Fußball-Bund. Denn bevor Joachim Löw am Mittwoch in der Münchener Arena seine Analyse des Debakels von Russland vortrug, – die Veranstaltung sollte die Rekorddauer von 110 Minuten betragen – , goss sich der Bundestrainer (Achtung!) Wasser ein. Kein Espresso für WM-Versager, sondern Wasser. Und das für den Espressoliebhaber Löw, der seine Zuneigung zu italienischen Heißgetränken stets gern zur Schau stellte. Der sich als Genießer inszenierte, was den ohnehin schon ausgeprägten Verdacht des Laissez-faire beim 58-Jährigen verstärkte. Wasser predigen, aber Espresso trinken. Schluss damit. Ab jetzt nur noch Wasser. Ein bisschen demonstrative Erdung nach dem harten Aufschlag bei der WM.
Das allerdings war es dann auch mit den Hinweisen darauf, dass in München eine neue Zeit begonnen habe. Joachim Löw gab sich zwar allergrößte Mühe, eigene Fehler auch als solche zu benennen und Zuversicht für die Zukunft zu versprühen. Aber er besaß dann doch die Unverschämtheit, weiter Joachim Löw bleiben zu wollen.
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Keine Revolution, nicht einmal ein Revolutiönchen bekam die deutsche Öffentlichkeit geboten, um den Groll nach dem Vorrunden-Aus zu vergessen. „Es gibt für mich nicht die Situation, mich völlig zu ändern“, sagte Löw.
Er hat sich nach der Jahrhundertblamage von Kasan dann aber sehr wohl in der Situation gesehen, die Schuld dafür auf sich zu nehmen – und zwar auf zwei Ebenen: auf der sportlichen und der emotionalen. „Mein allergrößter Fehler war“, sagte Löw, „dass ich gedacht habe, wir kommen mit unserem Ballbesitzstil durch die Vorrunde. Ich wollte das fast auf die Spitze treiben und diesen Stil perfektionieren. Das war fast schon arrogant.“
Falsche Taktik, falsche Einstellung bei WM 2018
Das habe zu einer fehlenden Absicherung geführt. Er hätte der Mannschaft „eine stabilere Spielweise geben müssen wie bei der WM 2014“, sagte Löw. Das soll sich in Zukunft ändern: mit mehr taktischer Flexibilität.
Fehler Nummer zwei sei gewesen, dass es ihm nicht gelungen sei, eine Turnier-Einstellung bei physisch und mental müden Weltmeistern aufzubauen. „Wir haben es nicht geschafft, neues Feuer zu schüren, dass es eine unfassbare Flamme werden kann“, sagte Löw etwas zu blumig. „Es ist meine Aufgabe, das einzufordern.“ Dass er diese Sattheit auch durch seine Spieler-Auswahl mit zahlreichen Weltmeistern sowie den Verzichten auf Englands Jungprofi des Jahres, Leroy Sané, selbst erzeugt hatte, dem widersprach Löw: „Ein, zwei Änderungen im Kader hätten das alles nicht verhindert“, sagte Löw. „Wir haben alle in der Summe versagt.“
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23 Minuten lang trug Löw in einer Art Referat seine Analyse-Ergebnisse vor. Dass seine Mannschaft in Russland zwar 60 Prozent Ballbesitz in des Gegners Hälfte hatte. Dass aber alles viel langsamer passierte als noch bei der erfolgreichen WM 2014 (die Zeit von Ball-Annahme bis Abspiel erhöhte sich von 1,19 Sekunden 2014 auf bis zu 1,6 Sekunden). Auch habe man trotz einer sehr hohen Anzahl von Torschüssen pro Spiel (24) zu wenige Treffer erzielt (30 Schüsse pro Tor). Das hatte die Fachwelt bereits bei der WM erkannt, aber Löw verteidigte die zwei Monate dauernde Analyse mit dem Hinweis, dass er erst mit vielen Spielern sprechen wollte.
Zu einem großen Umdenken, was das Personal betrifft, hat das aber nicht geführt. Als Löw das Aufgebot für die beiden Länderspiele gegen Weltmeister Frankreich am 6. September in München und gegen Peru drei Tage später in Sinsheim präsentierte, fehlten außer den beiden zurückgetretenen Mesut Özil und Mario Gomez nur Marvin Plattenhardt, Sebastian Rudy, Kevin Trapp – und Sami Khedira.
Leroy Sané kehrt zurück
„Ich wollte Platz schaffen, um Änderungen gerade auf dieser Position vorzunehmen“, begründete Löw den Verzicht auf den langjährigen Sechser. Immerhin drei Neulinge berief Löw: Den gebürtigen Berliner Nico Schulz (25), der sich als Linksverteidiger bei der TSG Hoffenheim in der vergangenen Rückrunde stark präsentiert hatte (Herthas Marvin Plattenhardt fehlt verletzungsbedingt), den Leverkusener Mittelfeldspieler Kai Havertz (19) sowie den Ex-Schalker Abwehrspieler Thilo Kehrer (21), der für 37 Millionen Euro zu Paris St. Germain gewechselt ist.
„Sie sind alle drei hochtalentiert und können ihren Weg in der Nationalelf machen“, sagte Löw. Dazu holte er den verschmähten Sané zurück („Er kann ein wichtiger Spieler werden.“). Ihm sei es wichtig, „einen guten Mix an Erfahrung und Jugend“ zu finden, sagte Löw. „Dann bin ich mir sicher, dass wir nach dem Debakel ein Jetzt-erst-recht-Gefühl hinbekommen.“
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Von Özil, der nach der WM und der Erdogan-Affäre mit Rassismus-Vorwürfen aus der Nationalelf zurückgetreten war, zeigte sich Löw enttäuscht: „Ich hätte mir gewünscht, dass er mich anruft und mir seine Entscheidung persönlich mitteilt“, sagte der Bundestrainer. Er selbst habe in den vergangenen zwei Wochen erfolglos versucht, Özil zu erreichen. Er habe die Situation um Özil und Ilkay Gündogan zudem „absolut unterschätzt“. Dass es aber einen Bruch innerhalb des Teams entlang der Migrationshintergründe einiger Spieler gegeben habe, verneinte der Bundestrainer: „Es gab schon mal Sprüche, aber keine unüberwindbaren Differenzen.“ Gündogan, der sich in einem Interview mit dieser Redaktion erklärte, werde weiter Teil der Mannschaft bleiben. „Ich appelliere jetzt an das Publikum, dass es die Sache beiseite legt“, sagte Löw.
Co-Trainer Schneider wird Chefscout
Das Team hinter dem Nationalteam werde verschlankt, kündigte Nationalelfdirektor Oliver Bierhoff an. Bei der WM waren sage und schreibe 135 Leute in der Delegation. In Zukunft werden es bis zu elf weniger sein. Der bisherige Co-Trainer Thomas Schneider übernimmt den Posten als Chefscout. Urs Siegenthaler, der ihn seit 2004 inne hatte, wird in einer übergeordneten Funktion weiterarbeiten.
Auch das ist kein Umbruch. Ob sich der deutsche Fußball einen Gefallen damit getan hat, auf einen radikalen Neustart zu verzichten, werden die kommenden Spiele zeigen müssen. Löw jedenfalls wird Löw bleiben. Zum Ende der 110 Minuten langen WM-Analyse sagte er: „Wir haben schon vorher Rückschläge erlitten. Wir knicken deswegen jetzt nicht ein.“