Moskau. Brasilien hat sich bei der Weltmeisterschaft von Spiel zu Spiel gesteigert und verzichtet jetzt sogar auf das große Neymar-Theater.
Es war exakt fünf vor zwölf, als sich am späten Mittwochabend die Tür zum stickigen Presseraum im Spartak-Stadion endlich öffnete. Hereinspazierten Brasiliens Trainer Tite, eine Wasserflasche in der linken Hand, und Paulinho, gerade von der Fifa zum offiziellen „Man of the Match“ gewählt. Ein Fifa-Mitarbeiter begrüßte die Medienvertreter und machte noch einmal die Spielregeln der folgenden Rede-und-Antwort-Runde deutlich: Erst der Spieler, sagte der strenge Fifa-Mann. Und maximal zwei Fragen.
280 Sekunden und einige nichtssagende Phrasen später war der Torschütze des ersten Treffers des 2:0-Siegs gegen Serbien erlöst. Keine Fragen zu Superstar Neymar, einen Tränenanfall oder über ein mögliches Zerwürfnis in der Mannschaft. Das große Drama, für das die Brasilianer in den ersten beiden Spielen der Vorrunde gegen die Schweiz (1:1) und Costa Rica (2:0) gut waren, blieb an diesem Abend aus. „Wir wollten ins Achtelfinale – und das haben wir auch geschafft“, floskelte noch Paulinho, ehe er ohne großes Theater Trainer Tite die große Bühne überließ.
Auch interessant
2:0 hatte Brasilien (unspektakulär, aber verdient) gegen Serbien gewonnen – und damit relativ souverän die insgesamt starke Gruppe E als Spitzenreiter abgeschlossen. „Es war eine gute Performance“, sagte Tite, der sich auch nicht von der Frage, ob er froh darüber sei, den Deutschen im Viertelfinale aus dem Weg zu gehen, bei Saunatemperaturen aufs Glatteis führen ließ: „Das ist eine Frage für Buchmacher. Wir leben nicht von Erwartungen, sondern in der Realität.“
Nun ja, die brasilianische Realität konnte sich nach dem dritten Gruppenspiel jedenfalls durchaus sehen lassen. Tatsächlich schaffte es der fünfmalige Weltmeister, sich – wie es so schön heißt – von Spiel zu Spiel zu steigern. Dem ernüchternden 1:1 gegen die Schweiz folgte ein kämpferisches und emotionales 2:0 gegen Costa Rica und gipfelte zum Abschluss der Vorrunde in einen souveränen 2:0-Erfolg gegen die ernst zu nehmenden Serben.
"Nacht der Erlösung"
In der Heimat, in der Kritiker nach suboptimalen Auftritten Hochkonjunktur haben, ist man sich nun jedenfalls sicher, dass das brasilianische Projekt Hexa, der sechste WM-Titel, auf dem besten Weg ist. „O Globo“ titelte am nächsten Morgen: „Nacht der Erlösung! Brasilien ist stark in beiden Strafräumen und deshalb nur schwer zu schlagen.“ Und „Estado“ erkannte an: „Neymar lässt gegen Serbien seinen Egoismus außen vor und sucht den Protagonismus. Endlich eine Partie, in der Brasilien besonnen agierte.“
Nun neigt man in Brasilien gerne dazu, in Extremen zu denken. Nach einem Unentschieden droht das Ende der Nation, nach einem Sieg frohlockt man darüber, dass man unaufhaltsam sei (und schon gar nicht vom kommenden Achtelfinalgegner Mexiko). Doch genau an dieser Stelle übernimmt Tite das Zepter, beruhigt die Gemüter. Einerseits. Oder dämpft die Erwartungen. Andererseits.
Auch interessant
Ob er in die Zukunft sehen könnte, wurde der Grand Signeur in der Nacht zum Donnerstag gefragt. Schließlich habe er ein hartes Eröffnungsspiel (mit einem möglichen Unentschieden), eine schwere Partie gegen Costa Rica (mit einem späten Siegtreffer) und ein Tor in Spiel drei von Phrasendrescher Paulinho jeweils vor den Partien vorausgesagt. Tite lächelte und drückte auf den roten Knopf am Mikrofon. „Ich werden zu 500 Sachen befragt und muss 500 Prognosen abgeben“, antwortete der Coach. „Und wenn ich bei drei von 500 Prognosen richtig liege, dann kann man wahrscheinlich nicht davon sprechen, dass ich in die Zukunft gucken kann.“
Einen kleinen Blick in die Zukunft gönnte sich Entertainer Tite dann aber doch. Er freue sich auf die Partie am Montag (16 Uhr) in Samara gegen Mexiko. „Am Ende muss man ganz einfach Vertrauen in die eigene Stärke haben.“
Damit hatten die Brasilianer in der Vergangenheit allerdings am seltensten ein Problem. Und selbst Sorgenkind Marcelo, der sich eine Wirbelverletzung zugezogen hatte, wollte die gute Stimmung am Tag nach dem 2:0 nicht trüben. „Gott sei Dank ist es nichts Ernstes“, twitterte der Linksverteidiger am Donnerstag, nachdem Mannschaftsarzt Rodrigo Lasmar orakelte, dass die Hotelmatratze Schuld an Marcelos Wehwechen sein könnte. „In kürzester Zeit bin ich wieder zurück.“
Für ein klein wenig Drama reichte es am Tag danach also doch.