Gelsenkirchen. Immer mehr englische Fans entdecken die deutsche Fußballlandschaft. Dort finden sie Werte wieder, die sie in der heimischen Premier League längst verloren glauben.

Er hat das komplette Programm durchlebt. Das Kribbeln in der Magengegend. Die schwitzigen Hände, die weichen Knie. Da wusste Christian Ratcliffe: Er war verliebt. Unsterblich. Auf den ersten Blick.

Sein Schwarm trug blau und weiß, hielt Bierflaschen in der Hand und grölte lautstark obszöne Fußballlieder. Doch als der junge Engländer die Fans des FC Schalke 04 an diesem 8. November erstmals erblickte, war er fasziniert, euphorisiert – verzaubert. Dem unspektakulären 2:0-Sieg der Königsblauen über den Karlsruher SC – dem schenkte der Fußballtourist kaum Beachtung. Gebannt beobachtete der junge Student das Geschehen in der Schalker Fankurve. Lauschte den Sprechchören, beobachtete die feiernden Zuschauer. „Die Fankultur in Deutschland ist mit der in England nicht vergleichbar. Bundesliga: Das ist Fußball, wie er einmal war”, sagt Ratcliffe.

"Fußball gehört noch den Fans"

Nürnberg, Dortmund, Mönchengladbach, St. Pauli. Immer mehr Engländer entdecken die deutsche Fußballlandschaft für sich und finden dort Werte wieder, die sie in der heimischen Premier League längst verloren glauben. Ratcliffe: „Hier in Deutschland habe ich noch das Gefühl, dass der Fußball den Fans gehört. Viele Deutsche mögen anders denken. Aber denen sage ich nur: Kommt nach England.”

„Chris” nennen sie ihn auf Schalke, und längst ist der 31-Jährige mit dem fremdklingenden Akzent einer von ihnen. Vor dem Spiel gegen Hoffenheim sitzt er im Hauptquartier der Schalker Fan-Initiative, trägt ein Schalke Trikot, eine Kappe mit dem S04-Logo und hat sich einen Schal um das Handgelenk gebunden. Um ihn herum diskutieren Fans die Aufstellung und immer wieder prostet Ratcliffe ihnen mit einem fröhlichen „Glückauf” zu.

Weit weg ist er in diesem Moment von England , von der Premier League und Klubs wie dem FC Liverpool, Manchester United oder dem FC Chelsea, die längst zur Spielwiese von Milliardären aus den USA und Russland geworden sind. Weit weg von Dauerkartenpreisen im vierstelligen Bereich, von Stadien, in denen es nur Sitzplätze gibt und es verboten ist, den Becher Bier mit auf seinen Platz zu nehmen. „Fußballfans werden in England als Störenfriede angesehen. Das ist hier anders. Schalke prägt eine Stadt, eine ganze Region. So etwas habe ich noch nie erlebt.”

Parallelen zwischen Leeds United und Schalke

„Yorkshire Schalker” nennen sich Ratcliffe und seine Freunde. Regelmäßig reisen sie ins Ruhrgebiet. Mit dem Billigflieger geht es von Leeds nach Düsseldorf, übernachtet wird im Hotel, gefeiert in der Nordkurve. „Entweder man ist Schalker, oder man hat wenig Sympathien für diesen Verein. Das ist wie in meiner Heimatstadt, wie bei Leeds United. Vielleicht hat mich Schalke deshalb so schnell in den Bann gezogen.”

Leeds - Partnerstadt Dortmunds

In den Bann gezogen sind mittlerweile auch viele von Ratcliffe's Schülern. Deutsch und französisch unterrichtet er an einer Schule in Leeds, wird dort nur der „Schalke-Botschafter” genannt. Zahlen lernen seine Schüler beim Tippen der Bundesligaspieltage, gewinnt sein Verein, trägt Ratcliffe am nächsten Tag eine blau-weiße Krawatte.

Und als in Leeds – der Partnerstadt von Dortmund – vor einigen Jahren das Straßenschild des „Dortmund Square” gestohlen wurde, zählte er in seinem Freundeskreis zu den Hauptverdächtigen. „Ich war es nicht”, sagt Ratcliffe schmunzelnd. „Aber wirklich traurig, dass es weg ist, bin ich auch nicht.”