Gelsenkirchen. Schalke-Anhänger Mohammed Albarnawe kann nicht nur volle Bierbecher auf dem Kopf balancieren. Er weiß auch, wie man Notsituationen übersteht.

Im Internet ist Mohammed Albarnawe so etwas wie ein Kult-Star: Zahlreiche Videos zeigen den Schalke-Fan, wie er randvolle Bierbecher durch die Menschenmenge in der Veltins Arena balanciert – auf dem Kopf, ohne Zuhilfenahme der Hände. Wie er auf diese verrückte Idee kam? Ganz einfach: „Zu den Heimspielen fahre ich meistens mit meinem besten Freund Heinz, der nach einem Schlaganfall im Rollstuhl sitzt. Einmal habe ich versucht, seinen Bierbecher festzuhalten, während ich Heinz im Rollstuhl schob, aber das war extrem schwierig, mir ist das ganze Bier über die Finger geschwappt. Also sagte ich zu Heinz: ,Komm, jetzt mach ich das mal so wie die Leute in Afrika!’ Und dann balancierte ich das Bier einfach auf meinem Kopf.“

Am Anfang sollte man es wohl besser erstmal mit Wasser versuchen: Mohammed Albarnawe – als Könner balanciert er Bier.
Am Anfang sollte man es wohl besser erstmal mit Wasser versuchen: Mohammed Albarnawe – als Könner balanciert er Bier. © RHR-FOTOvia www.imago-images.de

Doch mit diesen Kunststückchen ist in Zeiten von Corona vorerst Schluss: Schalke steht still, die Arena ist verrammelt, die Zapfhähne zugedreht. „Aber das ist ja nur für eine Weile so, irgendwann wird wieder gespielt“, sagt der gelernte Mechaniker und hat bis dahin einen guten Tipp für alle S04-Fans parat: „Vielleicht üben sie zu Hause das Bierbecher-Balancieren. Bei uns in Nigeria können schon kleine Kinder auf diese Weise richtig große Dinge transportieren: Wäschekörbe, Wasserkanister oder Stoffballen – und das teilweise drei, vier Kilometer weit.“ Wer das Bierbecher-Balancieren ebenfalls lernen wolle, der solle es erst mal mit zehn oder 20 Sekunden im Stehen versuchen, rät Albarnawe. „Später kann man die Zeitspannen langsam steigern und dann allmählich beginnen, ein paar Schritte zu machen. Auch die Menge an Bier im Becher sollte man sehr langsam steigern.“ Vielleicht, so fügt der 40-Jährige lachend an, könne man „in der Lernphase besser Wasser nehmen“.

Mohammed Albarnawe aus Gescher im westlichen Münsterland lässt sich seine Fröhlichkeit nicht nehmen – auch nicht vom Coronavirus: „Ich bin immer optimistisch. Ich liebe das Leben, aber ich habe keine Angst.“ Das liegt wohl auch daran, dass der Mann aus Nord-Nigeria schon so viele Gefahren meistern musste. Vor 20 Jahren verließ Albarnawe seine Heimatstadt Baga aus Angst vor dem Terror der islamistischen Boko-Haram-Miliz. Sein Bruder Ali wiederum wurde von Soldaten der nigerianischen Armee erschossen, weil diese ihn fälschlicherweise für einen Boko-Haram-Anhänger gehalten hatten. „Es gab so viel Gewalt, Leid und Tod in dieser Region, das ist unvorstellbar“, sagt Albarnawe rückblickend.

Selbst auf der Flucht rief er: „Habt keine Angst, habt keine Angst“

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2002 versuchte er deshalb, über den benachbarten Tschad in den Sudan gelangen, um dort an einer Universität islamische Religionslehre studieren. Dann aber brach im Sudan ein brutaler Bürgerkrieg aus und Albarnawe landete stattdessen in Libyen. „Ich arbeitete als Elektriker, und in den ersten Jahren ging es mir auch richtig gut in Libyen. Doch als der damalige Staatschef Muammar al-Gaddafi 2011 gestürzt wurde, war es für dunkelhäutige Menschen plötzlich sehr gefährlich dort. Viele Libyer dachten, ich sei einer von Gaddafis früheren schwarz-afrikanischen Söldnern. Deshalb entschloss ich mich, die Flucht übers Mittelmeer nach Italien zu wagen.“

Auf den rund 350 Kilometern zwischen Libyens Küste und der italienischen Insel Lampedusa brach in dem kleinen Boot, in dem Mohammed Albarnawe und Dutzende andere Flüchtlinge kauerten, plötzlich das blanke Chaos aus. Von mehreren Seiten drang Wasser in den Rumpf, und die Insassen schrien verzweifelt um Hilfe, manche sprangen in Panik von Bord. Albarnawe aber blieb regungslos sitzen und rief beschwörend: „Habt keine Angst, habt keine Angst!“ Heute, knapp sechs Jahre nach seiner Rettung, sieht er viele Dinge gelassener. „Ein gutes Motto fürs Leben ist: Don’t worry, be happy – aber natürlich mit Vorsicht.“ Deshalb rät Albarnawe auch allen übrigen Schalke-Fans, während der Coronakrise gut auf sich und andere Acht zu geben: „Wenn ich noch etwas draußen unternehme, dann fahre ich allein mit dem Auto weit raus in die Natur und radle auf meinem Klapprad.“

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Zu Hause schaut sich Mohammed Albarnawe mitunter die Internet-Clips von seinen Balancier-Kunststückchen an. Immer wieder hatten andere Schalker Fans die skurrilen Szenen mit dem Handy gefilmt und online gestellt. Zigtausende clickten die Clips, doch anfangs wusste kaum jemand, wer dieser sonnige Typ mit den breiten Schultern und dem fast ebenso breiten Lächeln eigentlich war. Im vergangenen Sommer, während des Endspiels um die Deutsche A-Jugend-Meisterschaft zwischen Schalke und Hertha BSC (1:3), war Albarnawe sogar live im TV zu sehen. Und das Rätsel um den Bier-Balancierer beschäftigte plötzlich eine ganze Fußballnation.

Dabei trinkt der gläubige Muslim Albarnawe selbst gar kein Bier. Und falls doch, dann nur zu ganz besonderen Anlässen – und grundsätzlich alkoholfrei: Nach dem Schalker 3:1-Sieg in Leipzig in der Hinrunde beispielsweise gönnte er sich während der Rückfahrt im Fanbus ein kühles Fläschchen. „Auf den Sieg!“, wie er sagt. Die Becher, die Mohammed Albarnawe auf dem Kopf spazieren trägt, sind in der Regel für seinen Kumpel Heinz oder für andere Mitglieder des Schalke-Fanclubs „Glockenstadt Knappen“ in Gescher. Dort, unweit von Coesfeld, hat Albarnawe vor gut fünf Jahren ein neues Zuhause und einen Job bei einem Getriebemotor-Hersteller gefunden.

Das Leben als Schalke-Fan beendete die Einsamkeit im neuen Land

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„Zuerst fühlte ich mich ziemlich einsam in Gescher“, erzählt Albarnawe, „es ist ein kleines Städtchen, in dem es vor allem abends sehr ruhig zugeht. Aber dann hab ich den Heinz kennengelernt, und über ihn bin ich zum Schalke-Fan geworden. Heute schaue ich mir jede Partie an – entweder in der Kneipe oder im Stadion. Besonders gerne fahre ich zu Auswärtsspielen, weil ich so gleichzeitig die Städte kennenlernen kann. Ich möchte möglichst viel über Deutschland erfahren.“ Die Schalker Rivalität mit dem Reviernachbarn hat Albarnawe bereits vollständig verinnerlicht: „In Gescher gibt es zwar mehr Schalker als Dortmunder, aber wenn mir mal ein Schwarz-Gelber über den Weg läuft, rufe ich: ,Ey, Zecke!’ Das ist natürlich nur Spaß.“

Mohammed Albarnawe freut sich schon jetzt auf das nächste Derby – egal, wann es stattfindet: „Rein sportlich gesehen war die Verschiebung des Spiels in Dortmund für uns ein Vorteil: Vielleicht sind einige wichtige Spieler von uns wieder fit, wenn die Partie nachgeholt wird.“ Große Hoffnungen setzt Albarnawe vor allem auf seinen Lieblingsspieler Daniel Caligiuri, dem er bereits persönlich begegnet ist: „Das war bei einer Nikolausfeier für Schalke-Fans mit Behinderung, zu der ich meinen Freund Heinz begleiten durfte. ,Cali’ ist nicht nur ein sehr wichtiger Spieler für unsere rechte Seite, er ist auch ein richtig sympathischer Typ.“ Ob Mohammed Albarnawe eines Tages auch Caligiuri & Co. das Bier-Balancieren beibringen könnte, quasi als zusätzliches Koordinationstraining? „Wenn alle wieder fit sind und alles normal läuft – warum nicht?“, sagt er und lacht laut auf. „Das wäre garantiert ein Riesenspaß!“