Gelsenkirchen. Teil 3 unserer Serie: Der 2. Weltkrieg und die Nachkriegszeit waren für Schalke eine Überlebensprüfung. Es ging gut, weil die Spieler anpackten.

Die größte menschengemachte Katastrophe der Geschichte war gerade 75 Tage her, da spielte der FC Schalke 04 wieder Fußball: Am 22. Juli 1945 bestritten die „Knappen“ ein Freundschaftsmatch in Wanne. Schließlich war die wirtschaftliche Lage des Vereins damals noch angespannter als heute, zu Zeiten der Coronakrise.

Schalke brauchte dringend Spiele, denn ohne Spiele keine Einnahmen – wobei man damals nicht um Geld, sondern um Sachwerte kickte. Neben Lebensmitteln für die Spieler und deren Familien benötigte Schalke dringend Baumaterial, um seine in Schutt und Asche gebombte Spielstätte wieder aufzubauen: Die alliierten Fliegerangriffe vom 6. November 1944 hatten die Tribünen der 1927 errichteten Glückauf-Kampfbahn beinahe komplett zerstört. Das Spielfeld mit seinem gelben, von Bomben-Kratern durchzogenen Rasen lag da wie eine riesige Scheibe Schweizer Käse.

Schalke schien am Ende

Bereits vor 1944 war ein regulärer Spielbetrieb auf Schalke und andernorts zusehends unmöglich geworden: In der Saison 1943/44 wurden alle nationalen Pokalspiele abgesagt, 1944/45 wurde auch der Deutsche Meister nicht mehr ermittelt. Gekickt wurde nur noch in regionalen Behelfs-Ligen, um Treibstoff für allzu lange Auswärtsreisen zu sparen. Der letzte historisch belegte Schalker Auftritt vor Kriegsende ging am 29. Oktober 1944 über die Bühne und endete mit einem 6:2-Auswärtssieg über eine Wittener Stadtauswahl. Danach schien Schalke endgültig am Ende – ausgebombt, ausgeblutet und ausgemergelt. Doch es spricht für die gewaltige innere Kraft dieses Vereins, dass er sich selbst neues Leben einhauchte.

„In den ersten Jahren nach dem Krieg stand für den FC Schalke 04 buchstäblich die nackte Existenz im Vordergrund“, erklärt der Historiker Dr. Daniel Schmidt vom Gelsenkirchener Institut für Stadtgeschichte. „Eine strategische sportliche Neuausrichtung fand in dieser Zeit eher nicht statt. Das war angesichts der dramatischen Umstände in der Nachkriegszeit natürlich verständlich. Andererseits führte es dazu, dass gegen Ende der 1940er-Jahre ein bis dato eher unbedeutender Klub namens Borussia Dortmund mit einer jungen, erfolgshungrigen Truppe an den alten königsblauen Recken vorbeizog.“

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Kuzorra und Szepan im hohen Alter noch auf dem Platz

Bei seinem ersten Nachkriegsspiel am 22. Juli 1945 in Wanne (gegen eine dortige Stadtauswahl) siegte der FC Schalke 04 noch standesgemäß mit 7:1. Allerdings „kreiselte“ dort nicht mehr jene magische Mannschaft, die innerhalb von nur acht Jahren (1934 bis 1942) sechs deutsche Fußball-Meisterschaften gewonnen hatte. Zwar waren die blau-weißen Ikonen Ernst Kuzorra (bei Kriegsende 39) und Fritz Szepan (37) noch immer mit von der Partie, doch die legendären Schwäger hatten ihren sportlichen Zenit längst überschritten. In der kargen Nachkriegszeit ging es ohnehin nicht um Titel und Trophäen, sondern um Kartoffeln oder Brot: „Die Versorgungslage in Gelsenkirchen war nach dem 2. Weltkrieg noch mindestens zwei Jahre lang desaströs“, erläutert Stadthistoriker Schmidt. „Aus diesem Grund traten die Schalker immer wieder zu so genannten Kartoffelspielen in Ostwestfalen, im Münster- oder im Sauerland an.“ Bei Dorfklubs wie dem VfL Geseke oder SuS Menden winkten als Antrittsgage Naturalien und eine heiße Suppe nach dem Spiel. „Die größten Zugpferde für solche Kartoffelspiele waren natürlich Szepan und Kuzorra“, so Schmidt, „vermutlich haben die beiden auch deshalb noch bis Anfang 1949 ihre Fußballschuhe geschnürt.“ Von Mitspieler Ötte Tibulsky ist überliefert, dass er im August 1946, nach einem 6:0 über den TSV Marl-Hüls, gleich zehn Teller Erbsensuppe verdrückte.

Gespielt wurde auch für Baumaterialien

Im Sommer 1945 allerdings durfte Schalke noch nicht unter seinem offiziellen Klubnamen spielen, weil die alliierten Besatzer die Gründung bzw. Wiederbelebung von Sportvereinen zunächst untersagt hatten. Mindestens einmal traten die Knappen deshalb unter dem Pseudonym Team „Aschenkippe“ an, um Baumaterialien für die Glückauf-Kampfbahn einzuheimsen: „Wir haben Spiele in Gegenden verabredet, die nicht so zerstört waren“, verriet Fritz Szepan Jahre später in einem Rundfunk-Interview. „Und da haben wir dann gefragt: ,Könnt ihr uns mit ein paar Steinen, etwas Zement oder Kalk helfen?“ Die Stars legten damals bereitwillig selbst Hand an: „Der Rasen war so verfilzt und versauert, dem sind wir mit Sensen und anderem Gerät nicht beigekommen“, so Szepan. „Am Ende haben wir ihn mit Taschenmessern geschnitten.“

Stars verloren im Krieg ihr Leben

Und so bleibt es eine Ironie der Geschichte, dass die Königsblauen einerseits ihre strahlendsten Erfolge in der dunklen Nazizeit feierten, andererseits nach Kriegsende verzweifelt um ihren eigenen Fortbestand kämpfen mussten. Viele Helden des „Schalker Kreisels“ fehlten jedoch bei den gemeinschaftlichen Wiederbelebungsmaßnahmen: Die Meisterspieler Ala Urban (†1943) und Bernhard „Natz“ Füller (†1943), die bei Kriegsende erst 31 beziehungsweise 24 Jahre jung gewesen wären, hatten jeweils im Russland-Feldzug den Tod gefunden. Einige, wie Hermann Eppenhoff oder Walter Zwickhofer, verbrachten nach Kriegsende noch Jahre in Gefangenschaft. Andere kamen darin um, wie der dreimalige Schalker Meistertrainer Otto Faist (†1946) und Walter Berg (†1949).

Der blau-weiße Mythos aber überlebte sowohl den Krieg als auch die zwei folgenden Hungerwinter. Die Basis für Schalkes Fortbestand hatten Szepan, Kuzorra & Co. in den Jahren 1934 bis 1942 gelegt: „Mit sechs Deutschen Meisterschaften hatte man sich damals ein gewaltiges Fanpotenzial geschaffen, das bis heute besteht“, betont Gelsenkirchens Stadthistoriker Schmidt. „Deshalb kamen auch Tausende, teilweise sogar weit über 10.000 Menschen zu den Kartoffelspielen. Und deshalb ging Schalke nie unter.“