Gelsenkirchen. Teil 2 der WAZ-Serie: Mitten in der größten Weltwirtschaftskrise wurde Schalkes Mannschaft gesperrt. Dann kamen 70.000 in die Glückauf-Kampfbahn.
Die Bilder vom 1. Juni 1931 zeigen eine bis heute beispiellose Solidaritätsbekundung im deutschen Sport. Es waren die Anhänger des FC Schalke 04, die sich auf den Weg gemacht hatten, im Auto, per Bus, auf dem Rad, zu Fuß oder mit der Bahn. 70.000 Zuschauer säumten an jenem Montag (!) den Rasen der Glückauf-Kampfbahn – mehr als je zuvor bei einem Fußballspiel in Deutschland. Berittene Polizisten mussten dafür sorgen, dass der Freundschaftskick gegen Fortuna Düsseldorf halbwegs geregelt über die Bühne gehen konnte, denn das Stadion war hoffnungslos überfüllt: Selbst auf den mit Maschendraht verstärkten Tornetzen hatte sich jeweils ein Dutzend junger Fans eingenistet.
Fröhlicher Anlass für diese beeindruckende blau-weiße Wallfahrt war das Ende der knapp einjährigen Sperre gegen nahezu alle Schalker Spieler, weil diese verbotene Geldzahlungen vom Verein erhalten hatten. Die Knappen mussten die Saison 1930/31 deshalb mit einer Altherren- und Reservisten-Truppe absolvieren, was zum sportlichen Einbruch und um ein Haar zum wirtschaftlichen Aus führte. Denn die Leute wollten Szepan und Kuzorra sehen, nicht die eilig zusammengetrommelten Ersatzleute, die an ihrer Stelle aufliefen. Um die leeren Klubkassen nach Ablauf der Sperre wieder zu füllen und obendrein die drastischen Geldstrafen an den Verband zahlen zu können, bestritt Schalke zwischen dem 1. und 15. Juni 1931 gleich fünf Freundschaftsspiele – und die Fans kamen zu Zehntausenden und retteten so ihren Verein.
Es ging um verdeckte Zahlungen
„Die Sperre von 1930 war für Schalke auch deshalb so brisant, weil sie mitten in die damalige Weltwirtschaftskrise fiel“, erläutert die königsblaue Klubhistorikerin Dr. Christine Walther. „Die allgemeine ökonomische Situation war miserabel, zudem hatte der Verein nur drei Jahre zuvor die rund 200.000 Reichsmark teure Glückauf-Kampfbahn errichtet, die 1930 sicher noch nicht abbezahlt war.“
Laut Dr. Walther existieren zwar keine Geschäftsberichte mehr aus jener Zeit, dennoch zeichnet sie ein Bild von einem Klub, der 1930/31 kurz vor dem Kollaps stand: „Dass kaum noch Zuschauereinnahmen da waren, die ja zur damaligen Zeit die mit Abstand größte Einnahmequelle darstellten, war schon fatal.“
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Die (beinahe) verhängnisvolle Affäre hatte im Frühsommer 1930 ihren Lauf genommen: Unmittelbar nach Abschluss der Saison 1929/30, die Schalke als Westdeutscher Meister abgeschlossen hatte, leitete der Westdeutsche Spielverband (WSV) Ermittlungen gegen mehrere Vereine ein. Anlass war die allgemein bekannte Praxis verdeckter Hand- und Tagegeld-Zahlungen an Spieler der oberen Ligen. Profitum war damals offiziell verboten im deutschen Fußball, dennoch ließ Schalke seinen Kickern, die zum Teil arbeitslos waren, statt der erlaubten fünf Reichsmark am Tag etwa das Doppelte zukommen. Zum Vergleich: Einige wohlhabende Klubs im Süden Deutschlands sollen zu dieser Zeit bis zu 50 Reichsmark täglich gezahlt haben.
Am 25. August 1930 wurden insgesamt 14 Schalker Spieler vom WSV zu Profis erklärt und demzufolge aus dem Spielbetrieb verbannt. Zudem schloss der Regionalverband acht Schalker Vorstandsmitglieder aus. „Die eingehende Prüfung der Kassenbücher (…) hat in weitestem Maße Verstöße gegen die Amateurbestimmungen ergeben“, hieß es vonseiten des WSV. „Die Spruchkammer geht von der Erwartung aus, dass der Verein nunmehr einen neuen Vorstand wählt, der die Gewähr dafür bietet, dass weitere Verstöße gegen die Amateurbestimmungen nicht mehr vorkommen.“
Schalke spielte unter dem Pseudonym „Meister des Westens“
Bereits elf Tage zuvor hatte es ein ähnliches Urteil gegen Borussia Mönchengladbach gegeben, wenn auch nicht ganz so hart: Fünf Spieler und zwei Funktionäre wurden bestraft. Auf Schalke aber wirkten sich die Sanktionen besonders drastisch aus, wie auch ein Blick auf die damalige Tabelle verrät: Nur mit Mühe entging die blau-weiße Notelf der Namenlosen, trainiert vom gesperrten (!) Torwart August Sobottka, dem Abstieg aus der damaligen Sonderklasse Ruhr.
In der riesigen Schalker Anhängerschaft und in den Zeitungen regte sich derweil massiver Widerstand gegen die „Verbandswillkür“, und nach knapp einem Jahr musste sich der WSV dem öffentlichen Druck beugen: Zwischen dem 1. April und dem 1. Juni 1931 wurden alle Schalker Spieler begnadigt – und präsentierten sich verdächtig schnell wieder in Topform: Zwischenzeitlich hatten sich Kuzorra, Szepan & Co. nämlich mit inoffiziellen Freundschaftsspielen fit gehalten, die nebenbei noch ein bisschen Geld abwarfen. Im Oktober 1930 beispielsweise bestritten sie unter dem Pseudonym „Meister des Westens“ zwei Partien gegen den 1. FC Wuppertal.
Dass die „echte“ Schalker Mannschaft während der Sperre nichts von ihrer alten Klasse eingebüßt hatte, zeigte sich auch im eingangs erwähnten Freundschaftsspiel gegen Düsseldorf, das man unter frenetischem Jubel mit 1:0 gewann (Tor: Hans Tibulski). In der darauffolgenden Saison 1931/32 wurden die Knappen einmal mehr Westdeutscher Meister und erreichten anschließend das Halbfinale um die Deutsche Meisterschaft (1:2 gegen Eintracht Frankfurt).
Doch nicht alle Schalker Protagonisten überstanden die zweite schwere Krise der Klubgeschichte (nach dem Ersten Weltkrieg) unbeschadet: Der ebenfalls sanktionierte Schatzmeister Willi Nier, ein Bankbeamter und Vater zweier kleiner Kinder, hatte sich einen Tag nach Bekanntwerden der Sperre im Rhein-Herne-Kanal ertränkt. Niers Neffe Emil verriet in der 2004 erschienen Vereinschronik „100 Schalker Jahre“: „Meine Mutter hat erzählt, mein Onkel habe darin die einzige Möglichkeit gesehen, Schaden vom Verein abzuhalten.“
Niers Beerdigung am 31. August 1930 geriet ebenfalls zur Solidaritätskundgebung: An den Straßen zur Glückauf-Kampfbahn, wo die Trauerfeier stattfand, standen Tausende Menschen Spalier. Die klare Botschaft: Auf Schalke hält man zusammen – vor allem in Zeiten schwerer Krisen. An Niers Sarg, der auf dem Rasen aufgebahrt war, wachte eine Abordnung von Bergleuten. Schalkes 2. Vorsitzender Wilhelm Münstermann erklärte an die Adresse des Verstorbenen: „Dein Tod wird unser Werk weitertreiben! (…) Du hast getan, was du konntest. Dafür habe Dank.“