Gelsenkirchen. Schalkes Sportvorstand Jochen Schneider ist vor dem Revierderby bestens gelaunt. Im Interview redet er über seinen Klub, den BVB und viel mehr.

Beim Interview vor dem Derby gegen Borussia Dortmund gibt sich Schalkes Sportvorstand Jochen Schneider (49) gewohnt gelassen, aber auch sympathisch-locker. Mitten im Gespräch bezieht Schneider den mit am Tisch sitzenden Schalke-Praktikanten Julius mit ein. „Julius, was willst du studieren“, fragt Schneider. Blitzschnelle Antwort des Praktikanten: „Sport-Management.“ Schneider empfiehlt Julius mit einem Augenzwinkern, dazu noch die Sprache Mandarin hinzu zu nehmen, „um irgendetwas Besonderes, was sonst kaum jemand beherrscht, zu machen.“ Danach wendet sich der Sportvorstand wieder den Interview-Fragen zu und stellt fest: „Wir haben es binnen kurzer Zeit hinbekommen, dass sich hier etwas verändert hat.“

Herr Schneider, haben Sie sich über die 0:2-Niederlage in Hoffenheim mehr geärgert oder eher in der Einschätzung bestätigt gefühlt, dass Schalkes Erneuerungsprozess noch ein langer Weg ist?

Jochen Schneider: Ich habe mich geärgert. So wie das Spiel verlief, wie dominant wir in Hoffenheim aufgetreten sind, das habe ich vorher noch nie erlebt. Weder mit meinem Ex-Verein RB Leipzig noch mit meinem früheren Klub VfB Stuttgart, mit dem wir relativ oft dort gewonnen haben. Aber so ist Fußball. Solche Ergebnisse und Spielverläufe können passieren.

Auf die Gesamtentwicklung von Schalke 04 hat der Rückschlag keine Auswirkungen, oder?

Schneider: Nein, das wäre bei einem Sieg aber genauso gewesen. Es geht um die ganzheitliche Entwicklung. Wir wissen, wo wir herkommen, denn wir standen vor ein paar Monaten noch im Abstiegskampf der Bundesliga. Seitdem ist nicht so viel Zeit vergangen.

Wie zufrieden sind Sie mit dem neuen Schalker Gesicht?

Schneider: Wir haben noch viel Luft nach oben. Aber den Weg, den wir eingeschlagen haben, würde ich als positiv bezeichnen.

Schalkes Sportvorstand Jochen Schneider (Mitte) im Gespräch mit den Redakteuren Thomas Tartemann (l.) und Andreas Ernst (r.).
Schalkes Sportvorstand Jochen Schneider (Mitte) im Gespräch mit den Redakteuren Thomas Tartemann (l.) und Andreas Ernst (r.). © Joachim Kleine-Büning / FUNKE Foto Services

Die 100-Tage-Grenze gilt immer als passender Anlass für ein Zwischenfazit…

Schneider: ...in der Politik schon. Im Sport nicht.

Trotzdem die Frage: Wie ist Ihr Eindruck über die Arbeit von Neu-Trainer David Wagner? Hat er die Erwartungen erfüllt?

Schneider: Wir hatten uns vor seiner Verpflichtung intensiv mit David auseinandergesetzt. Es waren einige Gespräche mit David Wagner selbst, dazu gab es eine eingehende Analyse über seine Tätigkeit in England bei Huddersfield Town. Er arbeitet so, wie wir uns das erhofft haben. Der Mensch David Wagner ist ein Klasse-Typ. Es macht einfach Freude, mit ihm zusammenzuarbeiten. Darüber hinaus ist der Fußball-Lehrer David Wagner klasse. Er versteht es, Menschen mitzunehmen, zu begeistern, dazu Spieler zu entwickeln und besser zu machen. Er kommuniziert gut. Was unglaublich wohltuend ist: Er hat einen ganzheitlichen Blick für den gesamten Verein. David hat enorm viel Verständnis für die Sichtweise des Vereins, was nicht selbstverständlich für einen Trainer ist.

Bei David Wagners Vorstellung sagten Sie, er wäre einer, der den Laden anzünden kann. Brennt es auf Schalke?

Schneider: Ja. Wenn man drüben das Trainingszentrum betritt, dann spürt man, da brennt ein Feuer. Es riecht anders da drüben, es fühlt sich anders an, es wird anders miteinander umgegangen. Das war im März diesen Jahres nicht so, wobei seinerzeit auch die Köpfe der Spieler unten waren. Das wiederum ist logisch, wenn es sportlich nicht läuft. Da kommen all diese gängigen Fragen auf: Ist das noch eine Mannschaft, gibt es Grüppchenbildung? Wenn es gut läuft, wird geschrieben: Tolles Team, jetzt fahren sie sogar zusammen in Urlaub. Man kennt das alles. Aber jetzt fühlt es sich grundsätzlich anders an.

Also hat David Wagner schon eine Menge bewirkt?

Schneider: Das kann man so feststellen. Zusammen mit seinem Trainer- und Betreuerteam hat sich eine Menge zum Positiven gewandelt.

Sie haben im Sommer Ihre erste Transferperiode auf Schalke hinter sich gebracht. In der Schalker Mannschaft, die zuletzt in Hoffenheim begonnen hat, stand mit Jonjoe Kenny aus Everton nur ein Neuzugang. Trotzdem geht es sportlich bergauf. Wundert Sie das?

Schneider: Dass wir gute Spieler und Qualität haben, war immer klar. Ein Großteil unserer Spieler hat im Frühjahr immerhin das Champions-League-Achtelfinale erreicht. Als ich im März, April in Interviews öfter gefragt wurde, ob Schalke eine Söldner-Truppe oder einen charakterlosen Haufen hat, da habe ich immer betont: Nein, so erlebe ich unsere Spieler nicht. Ich finde, dass wir keine charakterlich schlechteren Jungs haben als beispielsweise mein letzter Verein RB Leipzig. Nur müssen wir uns noch intensiver um sie kümmern und uns mit ihnen beschäftigen. Da fühle ich mich jetzt ein Stück weit bestätigt.

Anders wäre eine Leistungsexplosion bei Amine Harit, der letzte Saison vollkommen neben der Spur war, wohl nicht zu erklären, oder?

Schneider: Bei Amine ist die Geschichte komplex. Ich möchte seinen Unfall gar nicht mehr groß thematisieren, aber er hat leider eine grausame Erfahrung machen müssen und brauchte einfach Zeit, um das Ganze zu verarbeiten. Von daher ist Amine Harit eine besondere Personalie. Umso mehr freut es mich für ihn, dass er jetzt so aufblüht und eine so wichtige Rolle in unserer Mannschaft einnimmt. Es sind viele Leute, die neben Trainer David Wagner dafür verantwortlich sind. Zum Beispiel unser Profi-Koordinator Sascha Riether, unser Sportpsychologe Sascha Lense oder auch der Integrations-Beauftragte Massimo Mariotti. Jeder leistet einen enorm wichtigen Anteil. Den wichtigsten Anteil leistet jedoch der Spieler selbst.

War Massimo Mariotti, der in ähnlicher Funktion bereits bei Borussia Dortmund und zuletzt beim VfB Stuttgart tätig war, eine der wichtigsten Personalentscheidungen für Schalke?

Schneider: Ich will es nicht klassifizieren, sondern finde alle wichtig, die neu hinzugekommen sind. Das ist eine Teamarbeit. Massimo ist eine Seele von einem Menschen. Er ist für diesen Job geboren, spricht neben Italienisch auch Französisch, Englisch und ganz gut Spanisch. Aber ich möchte auch all die Mitarbeiter mit einbeziehen, die schon länger auf Schalke sind und sich so positiv in dieses neue Team einbringen.

Wie viele Transferperioden sind nötig, um Schalke für die Zukunft top aufzustellen?

Schneider: Wir haben jetzt eine Transferphase hinter uns gebracht. Mehr hat der Kalender nicht hergegeben (lacht). Im Januar kommt wieder ein Transferfenster, das Michael Reschke und sein Team gerade mit sehr viel Akribie vorbereiten. Alle Beteiligten geben hier richtig Vollgas. Allerdings ist es im Winter immer komplizierter als im Sommer, was Spielerwechsel betrifft. Wer gibt mitten in der Saison gute Spieler ab?

Sie haben vor dem Auswärtssieg in Leipzig in einem Interview gesagt: „Je unruhiger es wird, desto ruhiger werde ich.“ Wie sieht es denn jetzt mit Ihrem Zustand vor dem Derby aus?

Schneider: Ich bin ganz ruhig.

Welche Zahl würde auf einer Pulsuhr stehen, wenn wir Sie Ihnen jetzt anlegen würden?

Schneider: 54.

Und beim Führungstor?

Schneider: (lacht). Es kommt darauf an, wann es fällt. Wenn es in der zweiten Minute passiert, wäre mein Puls bei 55 Schlägen. Wenn der Treffer in der 90. Minute fällt, wäre der Puls dann doch durchaus höher.

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Sie sind im Derby bisher ungeschlagen. Hält die Serie?

Schneider: Da müssen wir die Kirche aber im Dorf lassen. Seitdem ich auf Schalke bin, gab es dieses eine Spiel, das wir im April 4:2 in Dortmund gewonnen haben. An diesem Samstag hatten wir unheimlich viel Glück. Wir haben einen Elfmeter bekommen, den es so in dieser Saison nicht mehr geben würde. Der BVB musste zwei Platzverweise hinnehmen. Klar musste man sich das Glück auch verdienen. Huub Stevens und Mike Büskens hatten unsere Mannschaft als Trainerteam top eingestellt.

Wenn Sie sich die Emotionen Ihres Premieren-Derbys vor Augen rufen: War es extremer als Sie zuvor erwartet hatten?

Schneider: Nein, es war so, wie ich mir das vorgestellt hatte. Ich habe vorher ja schon Spiele zwischen Dortmund und Schalke im Stadion verfolgt, da aber natürlich noch nicht aus der Perspektive des Schalker Offiziellen. Diese ganz besondere Atmosphäre hatte ich aber auch vorher gespürt.

Wie sehr hat es in den Tagen vor dem Dortmund-Spiel schon gekribbelt, wie äußert sich die Anspannung?

Schneider: Das Kribbeln steigt von Tag zu Tag. Man spürt schon, dass es für unsere Fans ein ganz besonderes Duell ist. Das gilt natürlich auch für die Dortmunder. Sonst würden wir vermutlich heute nicht zusammensitzen.

Wie bewerten Sie die Arbeit bei Borussia Dortmund?

Schneider: Unter dem Strich kann man nur den Hut davor ziehen, wie der BVB sich die letzten 12, 13 Jahre entwickelt hat. Das ist erste Klasse, was Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke und Sportdirektor Michael Zorc da aufgebaut haben. Die Erfolge sprechen für sich. Die wirtschaftliche Situation ist beeindruckend. Die Transfers, die der BVB im Sommer gemacht hat, waren stark. Dazu gibt es große Kontinuität auf den wichtigsten Positionen im Verein. Das ist beispielhaft.

Haben Sie die Biografie „Echte Liebe“ von Hans-Joachim Watzke schon gelesen?

Schneider: Nein, bisher noch nicht. Aber ich werde das Buch noch lesen.

Wie gestaltet sich das Verhältnis zu den Dortmunder Verantwortlichen?

Schneider: Ich finde den Umgang mit Hans-Joachim Watzke, Michael Zorc und Sebastian Kehl sehr kollegial, sehr respektvoll. Ich finde das sehr angenehm und entspannt zwischen uns.

In der Vergangenheit hat der Begriff Augenhöhe oft eine Rolle gespielt, wenn Schalke und Dortmund aufeinandertrafen. Können Sie damit etwas anfangen?

Schneider: Wenn man sich die Umsatzzahlen anschaut und sieht, zu welchen Transfers die Borussia in der Lage ist, dann muss man schon feststellen, dass Dortmund uns auf wirtschaftlicher Basis voraus ist. Das ist so, damit müssen wir umgehen.

Was im Umkehrschluss nicht bedeutet, dass Schalke gegen den BVB sportlich chancenlos ist.

Schneider: Das sieht man ja auch immer wieder bei Pokalspielen oder bei internationalen Spielen gegen vermeintliche Außenseiter. Aber auf lange Sicht helfen dir eben die besseren finanziellen Voraussetzungen. Sonst hätte die Bundesligatabelle in den letzten zehn Jahren mit acht Bayern- und zwei BVB-Titeln nicht so ausgesehen.

Sehen Sie das Derby als besonderen Gradmesser?

Schneider: Jedes Bundesligaspiel ist ein Gradmesser. Ich würde diesbezüglich deshalb die Begegnung nicht hervorheben wollen. Dortmund ist ein extrem starker Gegner mit einem außergewöhnlich guten Kader. Der BVB hätte in der Champions League gegen Barcelona gewinnen müssen. Sie haben zuletzt Spitzenreiter Mönchengladbach 1:0 bezwungen. Alleine daran lässt sich schon ablesen, was da für ein Kaliber auf uns zukommt.

Wer ist Derby-Favorit?

Schneider: Ich denke schon, dass der BVB in der Favoritenrolle ist. Das hat auch nichts mit Understatement zu tun. Wir waren vor vier Monaten Vierzehnter in der Bundesliga, der war Vizemeister. Wir machen uns also nicht bewusst klein, in dem wir sagen: Heute sind wir kein Favorit. Aber auch aus dieser Position heraus kann man viel erreichen.

Wie bewerten Sie die Spannung in der oberen Tabellenhälfte, in der es bisher keiner Mannschaft gelungen ist, davon zu ziehen?

Schneider: Ich finde das gut, weiß aber, dass wir noch ziemlich am Anfang der Saison stehen. Wenn das am 32. Spieltag auch noch der Fall wäre, dann wäre das etwas anderes. Aber es ist doch wohltuend, dass Bayern München in dieser Phase der Saison nicht schon vorne weggaloppiert.

Sie müssen sich in Ihrer Rolle als Sportvorstand auch immer wieder zu brisanten Themen wie zum Beispiel Clemens Tönnies, Ozan Kabak äußern. Finden Sie, dass der Fußball überpolitisiert wird?

Schneider: Das ist eine gute Frage. Der Fußball besitzt bei uns in Deutschland einen hohen Stellenwert. Da kommt alles aufs Tableau. Wäre Clemens Tönnies Aufsichtsratsvorsitzender von einem Verein in einer Randsportart, hätte das Thema eventuell nicht so weite Kreise gezogen, wie als Aufsichtsratschef von Schalke 04, aber das ist rein hypothetisch.

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Sind Sie mit Torwart Alexander Nübel, dessen Vertrag im kommenden Sommer ausläuft, weiter im Austausch?

Schneider: Selbstverständlich! Wir sind ständig im Gespräch, alleine schon deswegen, weil Alex unser Mannschaftskapitän ist und das dieses Amt auch toll ganz hervorragend ausübt.

Die Personalie zieht sich.

Schneider: Das finde ich überhaupt nicht. Ich habe klar gesagt: Ich würde mich sehr freuen, wenn Alex bei uns einen neuen Vertrag unterschreibt. Und wenn es im Mai 2020 ist, dann wäre das für uns auch okay. Wir geben ihm ganz bewusst die Zeit. Ich möchte niemandem Entscheidungen unter Druck abverlangen. Das muss immer aus Überzeugung geschehen.

Haben Sie den Hintergedanken, dass Schalke durch die beiden Torhüter Ralf Fährmann und Markus Schubert auch ohne Alexander Nübel gut aufgestellt wäre?

Schneider: Ralf Fährmann und Markus Schubert sind zwei außergewöhnlich gute Torhüter. Aber die Situation ist wie sie ist. Wir geben Alex die Zeit und hoffen, dass er sich für uns entscheidet.

Haben Sie mit dem zu Norwich City ausgeliehenen Ralf Fährmann ein Gespräch geführt?

Schneider: Ja, vor zwei Wochen haben wir uns unterhalten. Da ging es aber nicht um die Zukunft, sondern um die Gegenwart und wie es ihm bei Norwich so ergeht. Für Ralf war es natürlich schade, dass die Verletzung genau zu dem Zeitpunkt aufbrach, an dem er bei Norwich im Tor stand. Er fühlt sich grundsätzlich wohl in England. Jetzt hoffen wir, dass Ralf Spielpraxis erhält. Das hat er sich verdient. In der Premier League zu spielen, ist für einen Spieler etwas Außergewöhnliches. Und uns als Stammverein hilft das natürlich auch, wenn ein ausgeliehener Spieler regelmäßig zum Einsatz kommt.