Essen. Die Lizenz: wohl futsch. Doch im Halbfinale 1994 zeigt RWE seine ganze Wucht – und schafft Unglaubliches. Pokal-Held Jürgen Margref erinnert sich

Adrian Spyrka spielt den Ball zu Christian Dondera, doch der nimmt ihn gar nicht erst an, lässt ihn lässig durch die Beine rollen. Jürgen Margref rennt los, nimmt Maß, zieht ab. Sekunden später ist er in einer Jubeltraube verschwunden, nur sein Arm guckt heraus, ist in den Essener Nachthimmel gestreckt: Schaut her, ich war es, ich habe ihn reingemacht!

Es ist das 2:0 für RWE im Halbfinale des DFB-Pokals gegen Tennis Borussia Berlin, es ist das entscheidende Tor – die Rot-Weissen schaffen es tatsächlich, sie ziehen ins Finale ein. Nach Roman Geschlecht, dem Verlängerungs-Torschützen aus Runde zwei, Frank Kurth, dem Elfmeter-Killer von Jena, und Jürgen Röber, dem Mastermind hinter dem scheinbar Unmöglichen, ist ein weiterer Held geboren.

Rot-Weiss Essen trifft im Halbfinale auf einen Konkurrenten

„Das zweite Tor war die Erlösung für uns“, sagt Jürgen Margref über seinen Treffer. Noch 30 Jahre später schwärmt er von diesem Abend am 8. März 1994 in der Rappelkiste Georg-Melches-Stadion.

Der Gast aus der Hauptstadt hat nicht so viele Fans mitgebracht, so ist auch die Osttribüne randvoll mit Rot-Weissen. Wer dabei ist, wird diese 90 Minuten nicht vergessen. Ein ausgeglichenes Spiel auf Augenhöhe entwickelt sich zwischen den beiden Mannschaften, die in der zweiten Bundesliga sportlich um den Klassenerhalt kämpfen.

Wobei die Zukunft von RWE schon vorbestimmt ist: Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) hatte den Essenern im Herbst 1993 die Lizenz entzogen. Nur ein bisschen Resthoffnung besteht, dass das Urteil noch gekippt werden könnte, logisch: Auf den DFB sind sie in jenen Tagen nicht wirklich gut zu sprechen an der Hafenstraße.

Pyrofackeln, Schlachtrufe, Schmähdichtungen auf den DFB und immer wieder der Klassiker „Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin“; die ARD überträgt den Pokalfight live. Das ist noch mal eine Extramotivation für Spieler und Fans. Welch Bühne, Rot-Weiss Essen lebt. Und wie!

Mit seinem Treffer ist alles klar: Jürgen Margref (r.) schießt Rot-Weiss Essen ins Finale.
Mit seinem Treffer ist alles klar: Jürgen Margref (r.) schießt Rot-Weiss Essen ins Finale. © firo Sportphoto | firo Sportphoto/Jürgen Fromme

Rot-Weiss Essen: Stolz und Trotz nach Finaleinzug

In der 27. Minute wird die Flanke immer länger. Daouda Bangoura springt im Strafraum hoch, springt höher als alle anderen und köpft den Ball ins Tor. Die Führung bringt RWE in die Halbzeit. Wolfgang Sidka, Trainer der Berliner, gibt bei Sportschau-Moderator Klaus Schwarze zu Protokoll: „Die Essener haben ein Heimspiel, sie spielen mit mehr Wucht als wir.“

Tennis Borussia ist beileibe nicht chancenlos. Es bleibt ein enges Spiel. RWE um Wolfgang Frank, der den zum Bundesligisten Stuttgart abgewanderten Jürgen Röber als Trainer beerbt hatte, behält die Führung. Mal eine Chance hier, mal eine Chance dort. Bis, ja bis Jürgen Margref aus knapp 20 Metern einfach mal abzieht. Was für ein Strahl in Minute 66.

Die Party kann beginnen, und spätestens als Berlins Thomas Vogel eine Viertelstunde vor dem Abpfiff mit Rot vom Platz fliegt, reißt es auch den letzten Zweifler auf der alten Haupttribüne vom Stuhl. Ein einzigartiges Gefühl, ein schaurig-schönes Gemisch aus Freude, Stolz und Trotz, macht sich breit im Good Old GMS.

Nach dem Abpfiff ziehen Rauchschwaden von den zahllosen Bengalos, die auf den Tribünen angezündet werden, über den Platz. Frank Kurth eilt zum Zaun, gibt den Einpeitscher vor der Kurve. „Diese Mannschaft“, sagt ARD-Kommentator Wilfried Luchtenberg, „muss im Finale erst einmal bezwungen werden.“

93/94 - wir fahren nach Berlin! Unsere Serie:

93/94 - wir fahren nach Berlin! In unserer Serie schauen wir auf Rot-Weiss Essens legendären Pokal-Lauf zurück.
93/94 - wir fahren nach Berlin! In unserer Serie schauen wir auf Rot-Weiss Essens legendären Pokal-Lauf zurück. © Grafik Justus Heinisch | Grafik Justus Heinisch

RWE-Held Jürgen Margref: „Es ist und bleibt eine Riesensache“

Jürgen Margref erinnert sich: Nein, das konnte in dem Moment niemand so recht glauben. Es kommt nur alle Jubeljahre vor, dass ein Zweitligist im Finale steht. Ausgerechnet RWE packt es. „Es ist und bleibt eine Riesensache, wir haben das sehr genossen“, sagt der heute 55-Jährige.

Nur: Wie ist das möglich gewesen? Wie hat das Kellerkind der zweiten Liga mit den großen Finanzproblemen die Sorgen ausgeblendet und ist ins Finale gestürmt? Die Teamchemie hat einfach gepasst, antwortet Margref. Trainer Jürgen Röber und Manager Dieter Bast hatten im Sommer eine Mannschaft aus vielen jungen Spielern, die sich mit RWE identifizierten, zusammengestellt.

Für die RWE-Kicker gab es nach dem Finaleinzug gar eine Prämie, das war damals nicht üblich für Zweitliga-Akteure; schon gar nicht im chronisch klammen Essen-Bergeborbeck. Und so löst die Erinnerung an damals bei allem Stolz auch Wehmut in Margref aus.

„Manchmal frage ich mich, was noch möglich gewesen wäre mit dieser Mannschaft, wenn der Verein besser gewirtschaftet hätte“, sagt er – nur eineinhalb Wochen nach dem Halbfinal-Festtag stand der Lizenzentzug endgültig fest. Tschüss, zweite Bundesliga: Im Sommer 1994 sollte RWE in der Regionalliga neu starten.

Umso bedeutender war das Endspiel – Jürgen Margref und Co. wollten es allen zeigen.

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