Essen. . MSV-Legende Michael Tönnies schoss 1991 den schnellsten Hattrick der Bundesliga. Weil er bis zu 80 Zigaretten am Tag rauchte, musste ihm eine neue Lunge das Leben retten.
Wie kommt man einem Leben wie dem von Michael Tönnies nahe? Man muss sich auf die Reise machen.
Essen, Stadtteil Schonnebeck. Zuhause bei Michael Tönnies: Eine Doppelhaushälfte, helles Wohnzimmer, Ledercouch. Fast nebenan liegt der Platz, auf dem Michael Tönnies das Fußballspielen gelernt hat. Hierhin ist er zurückgekehrt. Man lernt einen bodenständigen Menschen kennen, zurückhaltend, aber voller Dankbarkeit. Einen, der gelernt hat, Alltägliches zu schätzen. Der eine Geschichte erzählt und in dieser Geschichte ins Gericht geht, nicht mit dem Schicksal, mit sich.
Typen wie Tönnies sind in der Bundesliga ausgestorben
Um diese Geschichte richtig zu verstehen, muss man eine zweite Reise machen. Zurück in eine andere Zeit. Man landet in einer Eckkneipe. Einer wie „Anja’s Treff“, in der Michael Tönnies seine Siege gefeiert hat. Mit viel Pils, mit noch mehr Zigaretten. Auf die Frage nach den bekanntesten Duisburgern hat er mal gesagt: „Schimanski und ich.“ Typen wie Tönnies sind in der Bundesliga ausgestorben. Sogar die Eckkneipen machen sich rar. Wie gesagt: eine andere Zeit.
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Es bleiben für diese Geschichte: die Zigaretten. Michael Tönnies hat sein Leben lang geraucht. Mit 13 fing er an, um einem Mädchen zu imponieren. „Blöd, oder?“, sagt er heute. Auch als Profi rauchte Tönnies, aber die Fans hat es nie gestört. Für sie war er immer: der Dicke. Liebe mit Schnauze. Tönnies war kein aus Marmor gemeißelter Athlet. Aber Tönnies hatte den Riecher. Wenn’s sein muss, machte er Tore mit dem Hintern.
Tönnies schießt schnellsten Hattrick gegen Oliver Kahn
Einer der besten Tage war der 27. August 1991. MSV Duisburg gegen Karlsruher SC. Bundesliga. Sein Gegenspieler ist Dirk Schuster, der furchterregend treten kann. Im Tor steht ein junger Bursche, dem alle eine große Zukunft vorhersagen: Oliver Kahn. Dann haut der Dicke der großen Zukunft nach zehn Minuten das 1:0 rein. Dann noch zwei Stück. Die Uhr zeigt Minute 15: dreimal Tönnies, 3:0. Bis heute der schnellste Hattrick der Bundesliga.
„Das ging nur: Anstoß, Tor, Anstoß, Tor“, sagt er. 6:2 gewinnt der MSV, Tönnies schießt noch zwei Tore. Oliver Kahn macht danach eine Weltkarriere. Aber nicht in Duisburg. Duisburg gehört Tönnies. Ihm und Schimanski.
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Der Hattr ick bleibt für immer. Manche meinen seither, Michael Tönnies habe nicht genug aus seinem Talent gemacht. Kann sein, sagt er: „Ich habe ja nie gekämpft. Wenn es Probleme gab, bin ich davon gelaufen.“ Der Satz galt für sein gesamtes Leben. Solange, bis es beinahe zu spät war.
2005 erfährt Tönnies die niederschmetternde Diagnose
Ihm ist einiges schief gegangen nach dem Fußball, privat und geschäftlich. Sein Vater, der eine Gebäudereinigungsfirma besaß, fing ihn auf. Das war Mitte, Ende der Neunziger. Tönnies trank, wenn auch nicht halb so viel, wie erzählt wurde. Und er rauchte. Doppelt so viel, wie erzählt wurde. Manchmal 80 Zigaretten am Tag.
Dann kam die Sache mit dem Wassereimer: Tönnies sollte ihn tragen, nach zehn Metern ist er am Ende. Erstmals hat er das schreckliche Gefühl zu ersticken. Auf den Schrecken zündet er sich sofort eine an. So geht das weiter. Sogar, nachdem er seine Diagnose längst hatte: Lungenemphysem im schlimmsten Stadium. Nahezu ein Todesurteil. Das war 2005.
MSV-Legende denkt mehr als einmal an Suizid
Alles, was Michael Tönnies über die Jahre danach erzählt, ist wieder eine Reise. In einen Albtraum. Oder hinauf auf den höchsten Berg der Welt, wie man will. Sein Mount Everest: eine Treppe. Tönnies war zurück gezogen in sein Elternhaus, seine Frau war da schon gegangen. Sein Zimmer liegt im ersten Stock. Davor die Treppe. Irgendwann bleibt er einfach oben. Er schafft keine dreizehn Stufen mehr, nicht mal mit Pausen. Jeder Atemzug: Qual. Michael Tönnies denkt an Suizid: „Mehr als einmal.“
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Die Wende kommt aus Duisburg. MSV-Fans schenken ihm ein Buch. 60 Seiten Fotos, Gedichte, Briefe. 60 Seiten Liebe. Wir haben dich nie vergessen, du hast uns so viel Freude gemacht. Es rührt ihn bis heute, wenn er davon erzählt.
Natürlich wäre er ohne die richtigen Ärzte nicht gerettet worden. Sie finden Zugang zu ihm, sie stellen ihn vor die Wahl: zu kämpfen oder zu sterben. Tönnies hört mit dem Rauchen auf, endlich. Er läuft nicht weg, als man ihm sagt, ihn könne nur noch eine neue Lunge vor dem frühen Tod bewahren. „Ich hatte Schiss”, sagt er, „aber ich wusste, dass ich vielen Menschen etwas bedeute.“
Transplantation erst im vierten Anlauf
Dreimal bringt man ihn danach nach Hannover zur Transplantation. Dreimal passiert nichts. Einmal liegt er schon halb im OP, als man einen winzigen Defekt an der Spenderlunge entdeckt. „Da habe ich Rotz und Wasser geheult“, sagt er. Beim vierten Mal, am 6. April 2013, geht alles gut. Die Ärzte setzen das neue Organ ein. „Eine gute Lunge“, sagen sie ihm. Mehr nicht. Und Michael Tönnies sagt: „Das war an einem Samstagnachmittag.“ Die Bundesliga spielte.
Ostermontag wird er feiern. Er ist 55 Jahre alt und zwei Jahre jung. Er darf nicht alles essen, nicht alles trinken, er muss 20 Tabletten am Tag nehmen. Aber er ist glücklich. Es gibt eine neue Frau in seinem Leben, seine Söhne sind für ihn da, er ist Stadionsprecher beim MSV.
Manchmal, sagt er, fühlt es sich in ihm ein wenig fremd an. Das Gefühl ist wohl immer noch ungewohnt: Michael Tönnies atmet wieder auf.