Mönchengladbach. . Borussia Mönchengladbachs Trainer Lucien Favre ist ein akribischer Tüftler. Der Bundesligist profitiert von dieser Eigenschaft seit fast vier Jahren.
Über Lucien Favre schwebt die große alte Zeit. Der Trainer von Borussia Mönchengladbach hat sich an einen Tisch gesetzt, er hat etwas Zeit mitgebracht und bestellt deshalb erst einmal einen Milchkaffee.
Hinter Favre hängt, es mag Zufall sein, ein auf Leinwand gezogenes Foto, das am Abend des 20. Oktober 1971 entstanden ist. Es zeigt Günter Netzer und Sandro Mazzola beim Wimpeltausch, aber einem Gladbacher muss man ja nichts über diesen Oktober-Abend vor 43 Jahren erzählen: Es war das Spiel mit dem Büchsenwurf. Europapokal der Landesmeister, Gladbach rauschte mit 7:1 über Mailand hinweg, dann flog die Dose und dieses grandiose 7:1 war nichts mehr wert. Das Foto ist groß, aber Gladbach in den Siebzigern, das war mehr. Das war etwas Überlebensgroßes.
Netzer aus der Tiefe des Raumes
Seit Februar 2011 ist Lucien Favre Trainer dieses damals außergewöhnlichen Vereins. Netzer aus der Tiefe des Raumes: Die Borussia war zu ihren besten Zeiten nicht nur erfolgreicher als die Bayern, sie spielte auch den schöneren Fußball, was in den Siebzigern flugs in einen gesellschaftlichen Gegenentwurf zum Krösus aus dem Süden umgedichtet worden war.
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Als Lucien Favre vor fast vier Jahren kam, war Gladbach längst nichts Besonderes mehr, der Verein stand vor dem Abstieg. Favre gelang die Rettung, es war eine Mischung aus Können und Glück, was der Trainer bis heute nicht vergessen hat. Er führte die Borussia im Jahr danach auf Platz vier und er hielt sie sogar auf Kurs, als man seiner Elf auf einen Schlag Dante, Marco Reus und Roman Neustädter wegkaufte. Er tut das bis heute, immer in Blickweite zur Spitzenklasse der Liga.
Favres erstklassiger Ruf hat seinen Grundstein in Berlin
Ein Journalist hat Lucien Favre neulich als Großmeister der Kleinigkeiten bezeichnet, viel besser lässt es sich nicht ausdrücken. Lucien Favre nennt es die Bedeutung der Details.
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Gladbachs Trainer bittet jetzt um einen Stift und ein Blatt Papier, er zieht Pfeile, macht Kreuze, Kreise, das Ganze sieht nach einer Minute aus wie abstrakte Kunst, aber es zeigt aus dem Kopf und bis ins Kleinste, wie und warum die Borussia kürzlich ein Gegentor gefangen hat. Am Ende fehlte auf dem Platz ein Schritt eines Spielers, in der Zeichnung ist es ein Zentimeter. Das ist, auf einem Blatt, Lucien Favres Leidenschaft. Vielleicht sogar sein Leben.
Am Samstag spielt sein Team gegen Hertha BSC. Favre hat in Deutschland in der Hauptstadt angefangen, die Verbindung endete vorzeitig und im Streit, aber in Berlin gründet sein Ruf, ein erstklassiger Fachmann zu sein. Einer mit dem Auge dafür, ob ein Spieler im modernen Fußball seinen Ansprüchen genügt: beidfüßig sein, schnell auf den Beinen, noch schneller im Kopf. „Unser Leben“, sagt Favre, „wird immer schneller. Überall. Züge, Flugzeuge, Internet. Fußball.“
Berlins Kalou wäre zu teuer für die Borussia
Man müsste Lucien Favre jetzt fragen, ob das Spiel gegen Berlin für ihn etwas besonderes ist. Er würde bejahen, weil diese Antwort erwartet wird, aber im Grunde ist immer das nächste Spiel das besondere für Favre. Er schreibt dann aus dem Kopf die Berliner Aufstellung auf ein zweites Blatt, zu jedem Spieler kennt er Details, am Ende kommt er bei Stürmer Kalou an, der wohl nur auf der Bank sitzen wird: „Zu teuer für die Borussia“, sagt Favre.
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Das ist ein Thema, bei dem er sich verplaudern kann. Der Fußball in Deutschland sei top, sagt Favre in seinem französisch gefärbten Akzent. Fast so gut wie in Spanien, besser als überall sonst in Europa, vielleicht mit Ausnahme der Premier League. „Ein Wahnsinn“, sagt Favre über England und meint die irrwitzigen Gehälter und Ablösesummen, die auf der Insel bezahlt werden.
Champions League ist für Gladbach eine Herkulesaufgabe
Aber auch die Bundesliga setzt immer mehr Geld um, nur bleibt ein immer größerer Teil bei den immer gleichen Vereinen hängen, in München sowieso, aber auch in Dortmund, in Gelsenkirchen, in Leverkusen, dort, wo regelmäßig die Champions League gastiert.
Gladbach auf diese Ebene zu heben, ist eine Herkulesaufgabe, unabhängig von der Tagesform. Andere haben mehr Geld, Gladbach hat diesen Trainer, der über die Entwicklung von Spielern spricht, über seine Rolle als Helfer seiner Mannschaft und Sätze sagt wie diesen: „Nach einer Niederlage fühle ich mich schuldig.“
Favres Berufsauffassung kostet viel Disziplin und Kraft
Vier Jahre ist er nun in Mönchengladbach, er hat sich verändert, er redet mehr mit seinen Spielern als damals in Berlin, und ganz sicher ist, dass dieser Beruf, wenn man ihn so ausübt wie Favre, Kraft kostet. Viel Kraft, sagt Favre, „und ohne Disziplin im Alltag ist das nicht zu schaffen.“
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Aber es zahlt sich aus. Für Lucien Favre, für Borussia Mönchengladbach. Auf dem Bild hinter dem Trainer schauen immer noch Netzer und Mazzola in die Kamera. Ein magischer Moment, das kleine Mönchengladbach auf Augenhöhe mit den ganz Großen. Das ist Borussias Mythos und Borussias Traum. So nahe wie unter Lucien Favre ist man ihm in den vergangenen 40 Jahren nie wieder gewesen.