Essen. . Wer bei der EM in Polen und der Ukraine den Titel holen will, muss erstmal am amtierenden Welt- und Europameister Spanien vorbei. Wer zählt neben Deutschland zu den Favoriten? Wer sind die Stars unter Spielern und Trainern? Hier gibt's die EM 2012 im Überblick.

Spanien: So viel gilt in der internationalen Fußballszene als sicher: Wer glaubt, Europameister werden zu können, der muss dazu in der Lage sein, Spanien zu besiegen. Dass sich der amtierende Welt- und Europameister in miserabler Form präsentiert und sich selbst aus dem Turnier kegelt, darf nicht erwartet werden. Spaniens Spiel ist das Spiel der Feingeister, es ist weitgehend geprägt von den technisch perfekten Stars des FC Barcelona. Wenn Xavi, Andres Iniesta und Cesc Fabregas schnell und gekonnt die Fäden ziehen, geraten Gegner oft zwangsläufig ins Stolpern. Gibt es auch Schwächen? Wenn überhaupt, dann nur klitzekleine. Im Angriff ist Top-Torjäger David Villa verletzt und Fernando Torres auf der Suche nach seiner Form – aber der robuste Fernando Llorente sollte nicht leichtfertig als schlechter Ersatz charakterisiert werden. Die Abwehr lässt sich manchmal von schnellen Stürmern überrumpeln. Aber eben nur manchmal.

Deutschland: In der überragend bewältigten EM-Qualifikation bewies das deutsche Team wiederholt, dass an Spielfreude und Spielkultur, die schon 2010 den erfrischenden WM-Auftritt in Südafrika gekennzeichnet hatten, weiter gefeilt wurde. Die Mannschaft hat in dieser Zeit die nächste Entwicklungsstufe erreicht, sie hat auch personell an Klasse dazu gewonnen. Auf der Bank sitzen nicht mehr Piotr Trochowski, Serdar Tasci oder Marko Marin. Wer es sich leisten kann, Spieler wie Mario Gomez, Marco Reus, Mario Götze und Mats Hummels möglicherweise nicht in die Startelf zu berufen, der kann reagieren, der verfügt im gesamten Aufgebot über enormes Potenzial. Oder, um es mit Berti Vogts zu sagen: „Die Breite an der Spitze ist dichter geworden.“ Ein Problem dürfte eher die aktuelle Ungewissheit sein – verursacht durch Testspiel-Niederlagen, Abwehrfehler und drei Vizetitel für die Stars des FC Bayern München.

Frankreich: Die einen nannten es eine Lachnummer, die anderen ein Trauerspiel – so oder so war es in jedem Fall hochnotpeinlich, was sich die fußballerischen Abgesandten der Grande Nation vor zwei Jahren bei der WM in Südafrika geleistet hatten. Die offene Konfrontation der Spieler mit Trainer Raymond Domenech, die in einem Trainingsstreik gipfelte, ist zwar nicht vergessen, aber vergangen. Unter Laurent Blanc hat das Team zurück in die Erfolgsspur gefunden. Mit einer glanzvollen Offensive. Seit 21 Spielen sind die Franzosen unbesiegt – das sollte allen Kontrahenten als Warnung reichen.

Niederlande: Fix und fertig waren die Niederländer, als sie im vergangenen November in Hamburg von ihren deutschen Gegenspielern eine Lehrstunde in den Fächern Kombination und Effizienz bekamen. 0:3, das saß. Muss aber heute nichts mehr heißen. Das Oranje-Team spielt zwar nur noch selten so zauberhaft wie früher, hat dafür aber an Robustheit hinzugewonnen. Und besitzt noch immer großartige Solisten, die Spiele entscheiden können.

Polen, Italien und England sind die Außenseiter

Polen: Der Heimvorteil, die Leidenschaft, erstklassige Torhüter und drei tragende Kräfte vom Deutschen Meister Borussia Dortmund – den Polen ist bei dieser Europameisterschaft jede Überraschung zuzutrauen.

Italien: Dem nationalen Wettskandal und der gewaltigen Unruhe zum Trotz – wer die Italiener unterschätzt, macht einen Fehler. Bei Turnieren haben sie sich oft als abgebrühte Profis erwiesen.

England: England könnte einer der Favoriten sein. Wenn nicht Nationaltrainer Roy Hodgson erst seit wenigen Wochen im Amt wäre. Wenn nicht drei wichtige Spieler verletzt ausfallen würden. Wenn nicht Superstar Wayne Rooney in den ersten beiden Gruppenspielen gesperrt wäre. Aber: Englische Fußballer geben nicht auf. Und bleiben deshalb unberechenbar.

Die Stars: Stars sind in der Regel die Spieler, die die meisten Tore schießen: Karim Benzema und Franck Ribéry (beide Frankreich), Robin van Persie und Klaas-Jan Huntelaar (Niederlande), Cristiano Ronaldo (Portugal), Robert Lewandowski (Polen), Zlatan Ibrahimovic (Schweden). Und noch einmal der ewige Miro Klose? Daneben hat das komplette spanische Mittelfeld Star-Status. Und bei den sich häufenden Elfmerschießen rücken Torleute immer stärker in den Fokus.

Die Trainer: Als Portugals Nationaltrainer Paulo Bento vor 42 Jahren geboren wurde, hatte Giovanni Trapattoni als Spieler des AC Mailand schon zweimal den Europapokal der Landesmeister in die Höhe gehievt und den Weltpokal gewonnen. Mit 73 Jahren ist Trap der älteste Trainer bei der EM. „Zum Aufhören müssen sie mich prügeln“, sagt er, „ich habe noch so viele Sachen zu lehren und bringe mich immer auf den neuesten Stand.“ Eines bleibt aber: Der Italiener setzt auch mit Irland auf die Defensive. Neben Trap haben viele Trainer der EM-Teilnehmer die 60 schon überschritten: Russlands Dick Advocaat ist 64, Morten Olsen (Dänemark) 62, Bert van Marwijk (Niederlande) 60, Vicente del Bosque (Spanien) 61, Roy Hodgson (England) 64. Joachim Löw ist 52. Im besten Alter also. Auch für den Titel.

Wo und wie wird gespielt?

Das Reglement: Gruppensieger und Gruppenzweiten qualifizieren sich für das Viertelfinale. Bei Punktgleichheit nach drei Spielen gilt: 1. größere Punktzahl aus direkten Duellen, 2. bessere Tordifferenz aus direkten Duellen, 3. größere Anzahl erzielter Tore aus direkten Duellen, 4. bessere Tordifferenz aus allen Spielen, 5. größere Anzahl erzielter Tore aus allen Spielen, 6. Platzierung in der Uefa-Koeffizientenrangliste, 7. Fair-Play-Wertung, 8. Losentscheid.

Die Spielstätten: Die EM wird in acht Stadien ausgetragen. In Warschau, der größten Arena in Polen, wird das Turnier eröffnet. Dort sowie in Breslau, Posen und Danzig spielen die Teams der Gruppen A und C die Vorrunde. Die Mannschaften der Gruppe B (mit Deutschland) und der Gruppe D präsentieren sich in der Ukraine. Spielorte: Lemberg, Donezk, Charkow und Kiew, wo am 1. Juli das Endspiel ansteht.

Die Hymnen: „God Save the Queen“, „Marseillaise“ und Deutschlandlied kennt jeder. Aber wer kann „Lijepa nasa domovino – Unser wunderschönes Heimatland“ der Kroaten oder „The Soldier’s Song - Das Lied des Soldaten“ der Iren mitsummen? Bekannt schwungvoll: „Fratelli d’Italia - Die Brüder Italiens“ und der spanische „Marcha Real“, eine der wenigen Hymnen ohne Text.

Die Generationen: Der ältestes Spieler, der jemals bei einer Europameisterschaft am Ball war, ist ein Deutscher: Lothar Matthäus war im Jahr 2000 bereits 39, als Teamchef Erich Ribbeck noch voll auf ihn baute – als Libero. Wir wissen, wie das endete. Ein Jahr jünger als Matthäus damals ist derzeit der Grieche Kostas Chalkias: Der Torhüter ist damit der älteste Teilnehmer dieser EM. Als bisher jüngster Spieler ging der Belgier Enzo Scifo in die EM-Geschichte ein, als er 1984 schon im Alter von 18 Jahren und 115 Tagen auf den Rasen durfte. Noch etwas jünger ist der Niederländer Jetro Willems, der am 30. März dieses Jahres 18 wurde. Aber der muss erst einmal spielen.

Die Spielerfrauen: Sie haben den schwersten Job bei der Europameisterschaft. Sie müssen zwar nicht wie ihre Partner die Konkurrenten auf dem Rasen weggrätschen, doch haben sie gegen noch hartnäckigere Gegner zu kämpfen, die Klischees. Spielerfrauen sind blond und hohl – das ist das gängige Vorurteil. Die englische Journalistin Shelley Webb, die selbst mit einem Profifußballer zusammen gelebt hat, schrieb einmal, die Frau gehöre zur Ausrüstung wie ein Schienbeinschoner. Immerhin hat der DFB längst erkannt, dass die Frauen nicht nur Anhängsel sind. Die Zeiten, in denen Nationalspieler wie Klosterschüler eingesperrt wurden, sind lange vorbei. So müssen sie nicht wie früher über Zäune klettern und fürchten, von nächtlichen Kontrolleuren vor Hotelaufzügen erwischt zu werden. Heutzutage ist der Tag nach den Spielen ganz offiziell Familientag. Willkommene Ablenkung vor der nächsten schweren Aufgabe. Die kommt bestimmt.