Tourrettes. Ilkay Gündogan und Lars Bender gehörten zu den Wackelkandidaten in der deutschen Fußball-Nationalmannschaft. Die beiden Mittelfeldspieler zählen ebenso wie Torwart Ron-Robert Zieler und Marcel Schmelzer aber zu den Gewinnern der Vorbereitung. Sie fahren mit zur EM.
Als Wackelkandidaten angereist, als EM-Teilnehmer zurück nach Deutschland: Für Ilkay Gündogan und Lars Bender, aber auch für Torwart Ron-Robert Zieler und Double-Gewinner Marcel Schmelzer erfüllt sich ein Traum. Wenn dieses Quartett am Mittwoch mit der Fußball-Nationalmannschaft das EM-Trainingslager in Südfrankreich verlässt und von Nizza aus zur Euro-Generalprobe der DFB-Auswahl am Donnerstag gegen Israel nach Leipzig fliegt (20.30 Uhr/ARD und im Liveticker), hat es sein EM-Ticket in der Tasche.
Im Gegensatz zu Keeper Marc-Andre ter Stegen, Cacau, Julian Draxler und Sven Bender, die am Pfingstmontag das EM-Aus ereilte, fliegen Gündogan, Lars Bender, Zieler und Schmelzer nach einem dreitägigen Kurzurlaub am Montag mit dem DFB-Team von Frankfurt/Main aus ins EM-Quartier nach Danzig.
Gündogan ist sicherlich die größte Überraschung im 23-köpfigen deutschen Kader. Denn der Mittelfeldspieler hatte nach seinem Wechsel vom 1. FC Nürnberg zu Borussia Dortmund unter Trainer Jürgen Klopp lange Zeit einen schweren Stand. Mit dem Beginn der Rückrunde änderte sich dies aber schlagartig und der 21-Jährige spielte sich mit grandiosen Leistungen in den vorläufigen Kader von Löw. Auf Sardinien und auch in Südfrankreich bestätigte der gebürtige Gelsenkirchener im Training seine Qualitäten.
Gündogans Torabschlüsse überzeugten im Training
„Gündogan ist fußballerisch sehr gut. Er verfügt über Spielintelligenz, eine hervorragende Spielübersicht und Ballsicherheit. Zudem hat er mich durch gute Torabschlüsse im Training überzeugt“, sagte Löw und rühmte die Vorzüge des Dortmunders, den der Bundestrainer gerne mit dem jungen Schweinsteiger vergleicht. Der BVB-Youngster seinerseits platzte fast vor Glück: „Ich bin glücklich, dass es in diesem zweiten halben Jahr beim BVB so gut lief und auch stolz, dass der Bundestrainer mich berufen hat.“
Gündogan, der am liebsten zentral spielt, weiß um seine Stärken und setzt vor allem auf seine Flexibilität: „Ich glaube, dass ich ein Stückweit variabel einsetzbar bin und im Mittelfeld deshalb auch jede Rolle ausfüllen könnte.“
Lars Bender gewinnt das Duell der Brüder
An Selbstbewusstsein mangelt es dem Wirbelwind mit türkischen Wurzeln jedenfalls nicht: „Ich merke innerhalb der Mannschaft, auch auf dem Platz, dass der Doublegewinn mit Borussia Dortmund mir sehr gut getan hat, dass er mir Selbstvertrauen gegeben hat, dass er sich auch auf mein Spiel auswirkt. Ich traue mir viel zu, vielleicht auch etwas, was man sonst am Anfang so nicht von mir erwarten konnte.“
Mit großem Selbstvertrauen geht auch Lars Bender von Bayer Leverkusen in das Turnier, nachdem er im Bruderkampf der Zwillinge Meister und Pokalsieger Sven vom BVB ausgestochen hat. „Jeder, der hier dabei ist, hat eine gewisse Qualität und die Chance, zum Turnier zu fahren“, hatte Lars bereits vor der Entscheidung gesagt. Beide Benders hatten betont, dass sie Konkurrenten sind, jeder dem andern aber die EM-Teilnahme vom Herzen gönnt. Sven Bender war nach seinen starken Leistungen für die Borussia eigentlich favorisiert worden - nun kam es anders.
Erleichterung bei Marcel Schmelzer
„Die Qualität von Lars ist eindeutig die Balleroberung. Und vielleicht benötige ich beim Turnier mal einen solchen Typen, dem ich sagen kann, dass er nur die Kreise einen gewissen Gegenspielers stören soll. Sven ist ein ähnlicher Spieler, hatte zuletzt aber öfter mit Verletzungen zu kämpfen“, erläuterte Löw, was den Ausschlag für Lars B. gab.
Erleichterung herrschte auch bei Zieler und Schmelzer, die bis zum Schluss zittern mussten. „Nach der endgültigen Nominierung des EM-Kaders freue ich mich nun voll auf die EM“, teilte Keeper Zieler von Hannover 96 via Facebook mit. Für Schmelzer, der am Samstag beim 3:5 gegen die Schweiz einmal mehr im Nationaltrikot nicht überzeugen konnte, sprach wohl nur seine Arbeitsplatzbeschreibung. Denn für die linke Seite der Abwehrkette hat Löw nicht allzu viele Alternativen.
Löw streicht für die Zukunft
Für den Schüler Julian Draxler, gerade 18 und mit großem Talent beschlagen, Sven Bender (23) und Torhüter Marc-Andre ter Stegen (20) gilt dagegen, dass sie eine Zukunft in der DFB-Mannschaft haben. "Sie haben nicht nur angeklopft, sie haben die Tür aufgestoßen. Wir werden sie schon im August vielleicht wiedersehen", sagte Löw weiter. Die Betroffenen konnten nach ihrem Scheitern im Casting für die Europameisterschaft also mit einem Gefühl der Hoffnung die Heimreise antreten. Auch der bereits 31 Jahre alte Stürmer Cacau, laut Löw "integer, respektvoll und sozial", werde nach 23 Länderspielen (6 Tore) auch für die WM 2014 in seinem Geburtsland Brasilien weiter beobachtet.
Die der speziellen Art der Auslese, mehr Spieler zu nominieren, um die überzähligen dann nach Hause zu schicken, begann Löw vor vier Jahren. Die Streichkandidaten bekamen deswegen eine Unwucht in ihrer Karriere als Fußballer. Die Beispiele Marko Marin, Patrick Helmes und Jermaine Jones (vor der EM 2008) sowie Andreas Beck (vor der WM 2010), die vor den letzten Turnieren entfernt wurden, unterstreichen das. "Da sind einige in der Versenkung verschwunden", bestätigte Löw. Bei den insgesamt jüngeren Streichkandidaten des Jahres 2012 rechnet Löw nicht mit einem Karriereknick.
Große Perspektiven für Draxler, Sven Bender und ter Stegen
Draxler, Sven Bender und ter Stegen haben große Perspektiven, betonte Löw. "Sie sind Gewinner", sagte der Bundestrainer. Offensivspieler Draxler zeigte im EM-Trainingslager in Tourrettes große Unbekümmertheit. "Er muss ja noch sein Abitur machen", erklärte Löw. Statt die EM zu spielen, wird Draxler nun in Gelsenkirchen wieder zur Schule gehen.
Sven Bender hatte eine durch zwei schwere Gesichtsverletzungen geprägte Bundesligasaison und kam dadurch aus dem Rhythmus. Sein Bruder Lars, der fast genauso spielt, erhielt den Vorzug. Und bei Borussia Dortmund spielte Kollege Ilkay Gündogan eine bessere Rückrunde, was dazu beitrug, ihm den Weg in den EM-Kader zu ebnen.
Marc-Andre ter Stegen wurde das Debüt zum Verhängnis. Bei Borussia Mönchengladbach eine der zentralen Figuren des Erfolges versagten ihm gegen die Eidgenossen die Nerven. So fährt Ron-Robert Zieler als dritter Keeper zur EM. Doch trotz seiner deutlichen Kritik an der Leistung sagte Löw auch: "Ter Stegen wird seinen Weg machen." Cacau flog aus dem Kader, weil er zu wenig beim VfB Stuttgart spielte und Löw inzwischen in Marco Reus eine neue Sturm-Alternative fand.
Schon Beckenbauer fand die Streichung schlimm
Für den gebürtigen Brasilianer ist das ein schlechtes Omen - wie damals für das Trio Marin, Helmes und Jones. Sie tauchten nicht mehr auf. Jones wurde bekanntlich US-Nationalspieler. Besonders bitter war es für den Hoffenheimer Andreas Beck. Nach den Ausfällen von Michael Ballack, Heiko Westermann und Christian Träsch musste nur noch einer für Südafrika aus dem vorläufigen Aufgebot gestrichen werden. Es war Beck.
Aber schon vor Löw sortierten andere aus. Für Franz Beckenbauer war es als Teamchef zum Beispiel das "Schlimmste, einem Spieler seinen Traum zu zerstören". Vor der WM 1986 traf es Wolfgang Funkel, Heinz Gründel, Frank Mill und Guido Buchwald, dem unter anderem Norbert Eder vorgezogen wurde. Der Stopper von Bayern München war zuvor ohne Länderspiel, machte aber bis auf das Finale gegen Argentinien (2:3) alle Spiele. Vor der WM 1990 flog im letzten Moment Holger Fach aus dem Kader. Eine gute Karriere in der Bundesliga machte er trotzdem. Das sollte auch Löw Streichkandidaten ein Trost sein.
Löw tröstet traurigen Cacau
In der vergangenen Dienstag hatte Claudemir Jeronimo Barreto noch gute Laune im Lager der deutschen Fußball-Nationalmannschaft verbreitet. „Ich habe ein kleines Instrument dabei, eine kleine Gitarre, auf der ich in meiner Freizeit übe“, berichtetet der Stürmer, der besser unter dem Namen Cacau bekannt ist, mit einem Lächeln im Gesicht.
Bei der Euro in Polen und der Ukraine (8. Juni bis 1. Juli) hätte der 23-malige Nationalspieler seinen Kollegen gerne seine Künste auf der Cavaquinho demonstriert, ihnen am liebsten nach einem erfolgreichen Finale in Kiew ein Ständchen gebracht. Doch daraus wird nichts. Denn am Pfingstmontag wurde er von Bundestrainer Joachim Löw in einem persönlichen Gespräch darüber informiert, dass er ebenso wie Marc-Andre ter Stegen, Sven Bender und Julian Draxler nicht im endgültigen deutschen EM-Aufgebot steht und vorzeitig die Heimreise antreten muss.
„Es war mein großes Ziel, nach der WM in Südafrika auch bei der Euro 2012 für die deutsche Nationalmannschaft auflaufen zu dürfen. Von Anfang an war mir klar, dass der Konkurrenzkampf um die 23 Plätze sehr hart und eng sein wird. Ich habe mein Bestes gegeben. Wie die jüngeren Spieler bin auch ich enttäuscht, aber ich fühle mich weiterhin als Teil der Mannschaft und wünsche ich ihr von ganzem Herzen, dass sie eine tolle EM spielt“, ließ der 31-Jährige über die Verbandshomepage ausrichten.
Auch der Traum von der WM in Brasilien ist wohl geplatzt
Dass es in seinem Herzen anders aussieht, ließ sich nur erahnen. Denn zuletzt hatte noch angedeutet, dass die Teilnahme an der WM 2014 in seinem Geburtsland noch ein lohnendes Ziel sein könnte. „Natürlich wäre das ein Traum. Ich will aber erst einen Schritt nach dem anderen machen. Zunächst ist die Teilnahme an der EM mein großes Ziel“, hatte Cacau gesagt. Mit der Ausmusterung von Montag dürfte seine Nationalmannschaftskarriere aber beendet, sein Einsatz am vergangenen Samstag beim 3:5 in Basel gegen die Schweiz sein letzter im Trikot mit dem Bundesadler gewesen sein.
Dies wollte Löw aber noch nicht bestätigem, im Gegenteil. Der Bundestrainer zeigte am Dienstag fast Mitleid mit seinem Lieblingsschüler und machte ihm zudem Hoffnung auf weitere Länderspiele. „Die Entscheidung gegen Cacau war extrem schwierig, weil ich ihn auch als Mensch und nicht nur als Fußballer extrem schätze. Es waren ausschließlich sportliche Gründe, die den Ausschlag gegeben haben“, sagte der Bundestrainer. Cacau solle jetzt nach vorne schauen und sich durchaus die WM 2014 zum Ziel setzen, so Löw, der ergänzte: „Cacau gehört für mich nach wie vor zum erweiterten Kreis der Nationalmannschaft.“
Reus verdrängte Cacau
Am 7. Mai hatte Cacau noch jubeln dürfen. Denn obwohl er beim VfB Stuttgart zuletzt mit der Rolle des Edelreservisten vorlieb nehmen musste, hatte ihn Löw als dritten Stürmer hinter Miroslav Klose und Mario Gomez nominiert. Kandidaten wie Patrick Helmes und Mike Hanke, die besser in Form waren, hatte er ausgestochen. Als Edeljoker wollte Cacau, der bei Schalke 04 im Gespräch ist, ebenso wie bei der WM 2010 auch im Sommer 2012 seinen Dienst bei der DFB-Auswahl verrichten. „Ich habe aus der Rolle in Südafrika viel gelernt, will Druck auf dem Platz ausüben. Man darf nicht denken, dass der Cacau nur froh ist, dabei zu sein, und ein bisschen Urlaub macht“, sagte er vergangene Woche und meldete damit sogar Ansprüche auf mehr Einsatzzeit bei der Nationalelf an.
Spätestens als Löw während der Vorbereitung öffentlich erklärt hatte, dass er sich auch den künftigen Dortmunder Marco Reus als Stürmer in vorderster Front vorstellen könne, hätte Cacau, der seit Februar 2009 deutscher Staatsbürger ist, aber hellhörig werden müssen. Nun muss er in den kommenden Wochen alleine auf seinem Instrument zupfen, die Musik bei der Euro spielt ohne ihn. (sid/dapd)