Budapest. Die ungarische Nationalmannschaft sammelt mit drei tapferen Auftritten bei dieser EM mehr Sympathien als gedacht ein. Die Enttäuschung ist groß.

Einer der schönsten Plätze zum Fußballschauen in Budapest liegt mitten im V. Bezirk fast direkt an der Donau. Die Restaurant-Bar Kiosk lockt mit einer offenen Terrasse, Großbildleinwand, 500 Sitzplätze, die ein internationales Publikum anziehen. Das war schon zur EM 2016 der Hotspot bei den Spielen der ungarischen Nationalelf. Als die Magyaren damals in einer Gruppe mit Portugal, Island und Österreich das Achtelfinale erreichten, feierten hier die Menschen bis zum Morgengrauen. Wäre derselbe Coup fünf Jahre später in einer Gruppe mit Portugal, Frankreich und Deutschland gelungen, hätte es bis drei, vier Uhr in der Früh wieder kein Halten gegeben. Aber nach dem tragischen Ausscheiden lag ein Anflug von Melancholie über dem Areal mit Panoramablick.

Wer nicht mit den aus der Puskas-Arena in die City strömenden Fans aus Portugal und Frankreich anderswo einen letzten Drink nahm, konnte hier nach Mitternacht die Enttäuschung fühlen. Doch das Tränenmeer ergoss sich in der Nacht des EM-Abschieds nicht in den trendigen Treffs in Budapest, sondern in der verregneten Arena in München. Hier weinten Kapitän Adam Szalai und Kollegen teils bitterlich. Bis auch ihnen gedämmert haben dürfte, dass man nach drei Bravourleistungen erhobenen Hauptes geht und daheim die Begeisterung für den Fußball neu entfacht hat. Im Grunde fehlten nur ein paar Minuten, um gegen Portugal unentschieden zu spielen und gegen Deutschland zu gewinnen.

Nun gegen England in WM-Qualifikation

Auch interessant

Pele nannte das Wembley-Stadion in London einst den
Von Kai Schiller und Sebastian Weßling

Dass ausgerechnet der bis dahin tadellose Torwart Peter Gulacsi („es ist schwer Worte zu finden“) patzte; dass der Flugkopfball von Szalai (11.) und das Kontertor von Andras Schäfer (68.) nicht reichten, hatte fast schon tragische Züge für den wackeren Außenseiter. Als sich die Nachricht von beiden ungarischen Wirkungstreffern beim Parallelspiel zwischen Portugal und Frankreich (2:2) wie ein Lauffeuer verbreitete, brandete ein Jubelorkan los. Doch am Ende musste Trainer Marco Rossi in der Ferne den Tröster mimen. „Leider gehen auch die schönsten Geschichten irgendwann zuende“, sagte der Italiener, der am Tag danach aus dem Trainingszentrum im Budapester Vorort Telki einen Ausblick auf die WM-Qualifikation anstellte, die am 2. September gegen England weitergeht. Gleich der nächste Hochkaräter für sein tapferes Ensemble, das ohne den verletzten Regisseur Dominik Szoboszlai und ohne ohrenbetäubende Fanunterstützung ganz nahe an der Sensation war, die für ältere Semester den Anflug einer kleinen WM-Revanche von 1954 gehabt hätte.

Die Mannschaft hat aber auch so mehr Sympathiepunkte eingesammelt, als ihnen die kühnsten Optimisten in der Heimat zugetraut hätten. Erneut sangen Szalai und Kollegen vor der mit rechtsextremen Auswüchsen aufgefallenen Ultragruppierung „Carpathian Brigade“ die Nationalhymne nach. Ansonsten haben sich Trainer und Spieler so gut es irgendwie ging aus zu dumpfer Symbolik herausgehalten – sie wollten das ganze Turnier erkennbar den Fokus auf Fußball richten, und sind damit gut gefahren.
Dafür gab es nun auch Lob der heimischen Presse. „Die EM ist für die Unsrigen zu Ende. Der Zauber bleibt mit uns“, befand das viel gelesene Sportblatt „Nemzeti Sport“. Unter der Leitung des Maestros Rossi, betonte „Nepszava“, habe sich das Team „aus großen Tiefen auf ein lange nicht gesehenes Niveau“ erhoben. Mit einem fast aufopferungsvollen Arbeitsethos dienten die Fußballer zudem als Vorbild für die vielen studentischen Bedienungen, die derzeit in den immer besser besuchten Public-Viewing-Arealen der Hauptstadt für einen Stundenlohn von inklusive Trinkgeld von 1500 Forint, umgerechnet nicht mal fünf Euro, täglich acht, neun Stunden lang in der Hitze schuften.

Kritik an Deutschlands erhobenem Zeigefinger

Auch interessant

Sie schenken hier jedem Gast ein freundliches Lächeln – egal, wo er herkommt. Unter ihnen sind viele, die das Wirken des rechtsnationalen Ministerpräsidenten Viktor Orban mitsamt seiner Gesetzgebung zu Lesben und Schwulen kritisch begleiten, sie hätten sich aber gewünscht, wenn der erhobene Zeigefinger zur Regenbogendebatte aus Deutschland nicht ganz so pauschal auf ihr Heimatland gerichtet worden wäre. Respekt sollte keine Einbahnstraße sein, sagten einige noch in derselben Nacht. Schadenfreude hätten sie allerdings nicht empfunden, wenn Deutschland gescheitert wäre. Dafür mögen viele unter der gut ausgebildeten Generation dieses Land viel zu sehr – und nicht wenige sehen dort ihre Zukunft.