Essen. Erstmals nach 1954 treffen Deutschland und Ungarn bei einem Turnier aufeinander. Das WM-Finale begeisterte nur die eine Seite.
Die Worte von Herbert Zimmermann, die aus den Radios in Deutschland dröhnten, bleiben unvergessen. „Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen. Rahn schießt. Tor. Tor. Tor. Tor“, schrie der Kommentator nach dem entscheidenden 3:2 von Helmut Rahn im Weltmeisterschaftsfinale von 1954 gegen Ungarn und schaffte es so, die emotionale Wucht dieser Partie in die Wohnzimmer zu katapultieren. Deutschland hatte die damals beste Mannschaft der Welt niedergerungen. Eine Sensation, als „Wunder von Bern“ bezeichnet. Was dabei meist untergeht: Für die Verlierer bedeutete dies ein Drama.
Deutschland und Ungarn - die Rollen haben sich umgekehrt
67 Jahre später treffen die beiden Nationen an diesem Mittwoch zum ersten Mal wieder bei einem Turnier aufeinander. Die Rollen haben sich längst umgekehrt. Deutschland hat sich in der Weltspitze festgebissen. Ungarn konnte nie wieder so beglücken wie zu Beginn der 50er-Jahre, als sie mit Legenden wie Ferenc Puskas Maßstäbe zementierten.
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„Ich werde dieses Spiel natürlich verfolgen und freue mich“, erzählt Horst Eckel, letzter lebender Weltmeister von 1954, der seine Worte von Tochter Dagmar übermitteln lässt. „Es werden Erinnerungen hochkommen an das Finale von 1954. Aber ich bin auch realistisch. Wir leben im Hier und Jetzt – und jetzt sind die Jungs dran.“
Allerdings lohnt der Blick auf die Vergangenheit, um zu verstehen, wie gelingen konnte, dass ein kleines Land wie Ungarn den Weltfußball dominierte. Und dass sich Fußball nie von Politik trennen lässt, schon gar nicht kurz nach dem Zweiten Weltkrieg.
Fußball war lange ein Kitt in Ungarn
Über vier Jahre und 32 Pflichtspiele blieb Ungarn ohne Niederlage. Die Aranycsapat, ungarisch für „Goldene Elf“, durfte sich bei den Olympischen Spielen 1952 die Goldmedaille umhängen. 1953 rüttelten sie die Hierarchie durcheinander, als sie die im eigenen Land noch nie besiegten Engländer im Wembley-Stadion 6:3 auseinander wirbelten.
„Damals schrieb englische Times, dass man in diesem Spiel eine völlig neuartige Form des Fußballs gesehen habe“, erklärt der Publizist Dietrich Schulze-Marmeling, der sich in zahlreichen Veröffentlichungen mit der Geschichte der Sportart auseinandergesetzt hat. „Schon in den 1920er-Jahren gab es den Donau-Fußball.“ Ungarn habe wie Österreich und die Tschechoslowakei auf viele Flachpässe gesetzt, ein Gegenstück zum englischen Kick-and-rush und ein Vorläufer des totalen Fußballs der Niederlande. „Hinzukamen die Strukturen, der Staat förderte den Fußball. Das Profitum wurde eingeführt, lange bevor es im Westen Europas erlaubt wurde“, sagt Schulze-Marmeling. Außerdem profitierte das Land noch von seiner einstigen Größe als Teil der Donau-Monarchie.
Um 1950 herum kontrollierte jedoch die Sowjetunion das Land, durch das die Donau fließt. In der Bevölkerung rumorte es, doch die goldene Elf gab den Menschen Hoffnung. Bis zum „Wunder von Bern“, das für die Ungarn ein Drama bedeutete. „Ich hatte über mehrere Wochen Angst, auf die Straße zu gehen“, erzählte Torhüter Gyula Grosics, der 2014 im Alter von 88 Jahren verstarb, viele Jahre später. „Diese Niederlage hätte vor oder nach der WM stattfinden können. Dass es gerade im Finale passierte, hat uns niemand verziehen.“
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Der Fußball war ein Kitt zwischen Machthabern und Bürgern, der nach dem Finale 1954 langsam zerbröselte. 1956 kochte schließlich der Volksaufstand hoch, Stars wie Ferenc Puskas flüchteten. Der Angreifer emigrierte nach Spanien, krempelte nach einer 18-monatigen Sperre der Fifa die Ärmel für Real Madrid hoch und stürmte nach seiner Einbürgerung sogar für die spanische Nationalelf. Der ungarische Fußball stürzte in den folgenden Jahren ab – und erholte sich davon nicht mehr.
"Wunder von Bern" - eine Grundlage für spätere Erfolge des DFB
Andere Nationen mit mehr Einwohnern und finanziellen Mitteln wie Deutschland katapultierten sich an die Weltspitze. Für den Deutschen Fußball-Bund war „Das Wunder von Bern“ die Grundlage für spätere Erfolge. Immer noch schaffen es kleinere Staaten, große Generationen hervorzubringen. Vor allem die Niederlande, die seit Jahren auf eine effektive Talentausbildung setzen. Aber das ein Land wie Ungarn mit aktuell rund zehn Millionen Einwohnern noch einmal über viele Jahre ungeschlagen bleibt, scheint unwahrscheinlich.
Ungarn versucht an vergangene Zeiten anzuknüpfen
Derzeit versuche Ungarn jedoch, an die vergangenen Zeiten anzuknöpfen, sagt Dietrich Schulze-Marmeling. „Viktor Orban investiert viel in den Fußball.“ Der Regierungschef erkenne, dass er durch die Sportart Einfluss in Europa gewinnen kann, erklärt der Publizist. „Es gibt wenige Staaten, in denen Politik und Fußball so eng verwoben sind.“