Herzogenaurach. Im abschließenden Gruppenspiel ist Deutschland gegen Ungarn klarer Favorit. Zwei Experten erklären die Stärken des DFB-Gegners.

Der Torjäger ist gut drauf. Erstaunlich viele Flanken, die beim Training der deutschen Nationalmannschaft in den Strafraum fliegen, wuchtet er per Kopf ins Tor. Das könnte eine gute Nachricht sein für Bundestrainer Joachim Löw, kopfballstarke Stürmer kann man immer gebrauchen. Erst recht jetzt, da es am Mittwochabend im letzten Vorrundenspiel der Europameisterschaft gegen Ungarn geht (21 Uhr/ZDF und MagentaTV) – einen Gegner also, der erst einmal darauf konzentriert sein wird, die Wege in den Strafraum abzuriegeln.

Die schlechte Nachricht für Löw allerdings ist, dass dieser abschlussstarke Stürmer auf den Namen Oliver Bierhoff hört. Der ist inzwischen immerhin schon 53 Jahre alt, da reicht die Kraft noch für etwas Training mit den Torhütern – nicht aber mehr für 90 Minuten harten Kampf ums Weiterkommen bei einem Turnier.

Auch ohne Bierhoff, den EM-Siegtorschützen von 1996, hat die deutsche Mannschaft nach herrschender Meinung aber mehr als genug Qualität, um Ungarn zu besiegen. Und das müsste sie ja nicht einmal, ein Punkt würde zum Weiterkommen als einer der besten Gruppendritten sicher reichen.

Deutschland hat Südkorea-Blamage noch im Hinterkopf

Aber auch vermeintlich leichte Aufgaben können kolossal schiefgehen, das weiß man im deutschen Lager spätestens seit 2018, seit dem 0:2 im letzten Vorrundenspiel gegen Südkorea, nach dem all die kurzen Wege vom Mannschaftslager zum Finalspielort nichts mehr nutzen, weil man schon vor Beginn der K.o.-Runde wieder abreisen musste aus Russland.

Thomas Doll hat eine ähnliche Schmach erlebt, 1992 im EM-Finale gegen Außenseiter Dänemark – der nach dem kurzfristigen Aus für Jugoslawien einen Kaltstart ohne jede Vorbereitung hingelegt hatte: „Die Dänen haben die nötige Lockerheit durch das ganze Turnier genommen“, erzählt er im Gespräch mit dieser Zeitung. „Im Finale hatten die Dänen dann einfach mehr Biss als wir. Die Dänen waren kerniger. Das darf Deutschland gegen Ungarn jetzt nicht passieren.“

Andreas Möller zu seiner Zeit als Co-Trainer der Nationalmannschaft.
Andreas Möller zu seiner Zeit als Co-Trainer der Nationalmannschaft. © dpa

Und deswegen warnen Trainerteam und Führungsspieler seit Tagen vor wie hinter den Kulissen davor, den Gegner zu unterschätzen. Denn die Ungarn waren beim 0:3 gegen Portugal längst nicht so unterlegen, wie es das Ergebnis nach drei späten Gegentoren vermuten lässt. Und dem Weltmeister Frankreich trotzten sie sogar ein 1:1 ab. „Die Ungarn haben taktisch sehr, sehr clever gegen Frankreich, aber auch gegen Portugal gespielt“, lobt Doll. „Sie standen sehr kompakt und hatten als Mannschaft, die vor allem bei den heißen Temperaturen verteidigt, einen Vorteil.“

"Maximale Hingabe" zeichnet Spiel der Ungarn aus

Der 55-Jährige, der einst den Hamburger SV und Borussia Dortmund trainierte, steht gerade am Flughafen in Budapest und wartet auf den Flieger nach Hamburg, als er diese Sätze sagt. Von 2013 bis 2018 war er Trainer von Ferencvaros Budapest, seitdem hat er seinen Lebensmittelpunkt in der ungarischen Hauptstadt. Er kennt sich also aus im ungarischen Fußball – und weiß, worauf die deutsche Mannschaft achten muss: „Grundsätzlich haben die Ungarn nicht den einen Top-Star, sie überzeugen als Mannschaft“, sagt er. Aber der Freiburger Roland Sallai hat es ihm doch angetan, weil der sehr beweglich ist und viele Freistöße rausholt. „Und gerade bei Standardsituationen sind die Ungarn sehr stark“, warnt Doll. „Willi Orban aus Leipzig ist beispielsweise ein Super-Kopfballspieler. Auch Adam Szalai aus Mainz reißt die Mannschaft mit. Er ist der Kapitän und Kopf der Mannschaft.“

Auch Andreas Möller ist angetan von den Auftritten der Ungarn. „Sie wollen alles geben und spielen mit maximaler Hingabe“, sagt der 53-Jährige. „Natürlich gibt es Mannschaften, die deutlich besser besetzt sind. Aber sie agieren als Mannschaft. Sie spielen sehr geschlossen und mit unglaublichem Teamspirit.“ Möller ist ein weiteres Beispiel für den großen deutschen Einfluss im ungarischen Fußball, der nicht nur durch die vielen ungarischen Spieler in der Bundesliga besteht. Von 2015 bis 2017 war er Co-Trainer der Nationalmannschaft unter dem in Herne geborenen Bernd Storck.

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Und der, so sagt es nicht nur Möller, sorgte für einen gewaltigen Professionalisierungsschub. „Wir haben gemeinsam viele Veränderungen angestoßen“, erinnert sich der heutige Nachwuchschef von Eintracht Frankfurt. „Ein neues Trainingszentrum ist entstanden, außerdem hat Bernd an den Strukturen gearbeitet und auf viele grundlegende Dinge wertgelegt.“ Auf Organisation, Disziplin, Mentalität und den Umgang miteinander. „Wir haben den Jungs aufgezeigt und vorgelebt, was nötig ist, wenn man Erfolg haben will“, sagt er. „Diesen Entwicklungsprozess hat Bernd angeschoben. Und das Ergebnis sieht man heute.“

EM 2016 macht Ungarn Hoffnung

2016 schafften es Storck und Möller, die Mannschaft nicht nur zur Europameisterschaft, sondern sogar ins Achtelfinale zu führen – als Gruppensieger vor Island und Portugal. Auch jetzt wäre ein Weiterkommen möglich. „Es herrscht eine unglaubliche Euphorie in Ungarn“, erzählt Doll. „Die Menschen sind sehr stolz auf ihre Nationalmannschaft. Sie hat sich in dieser Todesgruppe schon jetzt sehr ordentlich verkauft.“

Allerdings: Auf den Heimvorteil mit dem vollen Stadion in Budapest muss der Außenseiter nun verzichten, die Partie findet in München statt. „Die Mannschaft ist durch das ungarische Publikum getragen worden“, hat Doll beobachtet. „Dieser Joker wird in München wegfallen. Jeder Ungar hat vor den eigenen Fans 110 Prozent gegeben.“

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Leicht werde es für die deutsche Mannschaft dennoch nicht, glaubt Doll. „Ich traue den Deutschen aber ein besseres Spiel gegen Ungarn als den Franzosen zu, weil Frankreich sich schwerer tut, selbst das Spiel zu machen. Deutschland kann das besser.“ Überhaupt wurde ihm die deutsche Mannschaft nach der Auftaktniederlage zu schlecht gesehen: „Für mich gehört Deutschland neben Frankreich, Italien und Belgien noch immer zu den Favoriten dieses Turniers.“

Ex-Nationalspieler Andreas Möller traut Deutschland bei der EM Großes zu

Und auch Möller glaubt: „Qualitativ ist die deutsche Mannschaft absolut konkurrenzfähig.“ Jetzt komme es auf den Mannschaftsgeist an, auf die Frage, ob jeder Spieler alles gebe für den Erfolg. „Und wenn die Jungs das verinnerlichen, können sie sehr weit kommen“, sagt Möller. „Dann kann es ein besonderes Turnier werden.“

Für den maximalen Erfolg müssen die Deutschen also ein bisschen spielen wie die Ungarn.