München. Mit dem 4:2-Sieg gegen Portugal setzt die deutsche Mannschaft ein Ausrufezeichen. Spieler und Trainer warnen aber vor Überheblichkeit.
Es musste schnell gehen, und dann geht es nicht immer gut: Das Spiel war gerade abgepfiffen, die deutschen Nationalspieler feierten auf dem Rasen, die 12.926 Zuschauer auf den Rängen den 4:2-Sieg bei der Fußball-EM gegen Portugal. Das hätte schöne Bilder geben können, und so sprintete ein Kameramann auf das Spielfeld, kam aber nach wenigen Metern ins Straucheln und legte samt seiner Ausrüstung eine spektakuläre Bauchlandung hin.
Joachim Löw ist kein Mensch, der zur Hektik oder zum Überschwang neigt. Lässig stand der Bundestrainer auf dem Rasen, das dunkelblaue Hemd weit aufgeknöpft. Und während sich um ihn herum Jubeltrauben bildeten, während die Zuschauer sangen, dass sie einen so schönen Tag lange nicht gesehen hatten, sagte Löw ins ARD-Mikro: „Ich habe schon einige solche Spiele erlebt, umhauen tut mich das jetzt auch nicht.“
Das beste Turnierspiel der Nationalmannschaft sei 2014
Warum auch, es war ja nichts weiter passiert. Nur ein hochverdienter Sieg gegen den Europameister. Nur ein Erfolg, der das frühe Aus bei der Europameisterschaft nach dem 0:1 im Auftaktspiel gegen Frankreich vorerst abgewendet hatte. Nur das wohl beste Spiel, mit Sicherheit aber das beste Turnierspiel einer deutschen Nationalmannschaft seit 2014. Ein Hauch von Sommermärchen wehte durch die auch am Abend noch immer aufgeheizte Münchener Arena.
Löw lässt sich von Kritikern nicht beeinflussen
Eine weitere Niederlage hätte wohl das Vorrundenaus und ein Ära der Ende Löw in Schimpf und Schande bedeutet. Aber der freute sich eher nach innen. Genugtuung, wenn sie denn da war, ließ er sich nicht anmerken. Dabei hätte er durchaus Anlass dazu gehabt, der Bundestrainer war nach der Auftaktniederlage wieder einmal gehörig in die Kritik geraten: Falsches Personal, falsche Taktik, falsche Formation warf ihm der bei Turnieren gewohnt vielstimmige Chor der Experten vor.
Aber Löw hat in seinen 15 Jahren Amtszeit noch nie viel darauf gegeben, was ihm Experten raten, auch wenn es Rekordnationalspieler oder Welttrainer sind. Er hielt fest an seiner Startelf aus dem Frankreich-Spiel, er schickte wieder eine Dreier-Abwehrkette aufs Feld – und er machte damit alles richtig. Die Portugiesen, die auch nicht ihren besten Tag erwischten, bekamen nie Zugriff auf den Dreiersturm aus Serge Gnabry, Thomas Müller und Kai Havertz. Vor allem aber fanden sie kein Mittel gegen die Außenspieler Joshua Kimmich und den überragenden Robin Gosens. „Ich trage dafür die Verantwortung“, sagte Portugals Trainer Fernando Santos immer wieder, aber so recht erklären konnte er auch nicht, was seiner Mannschaft da widerfahren war.
Kai Havertz rechtfertigt seine Nominierung
Löws Plan ging auf. Er beorderte alle Spieler weiter nach vorne. Toni Kroos etwa, der so deutlich mehr in gefährlichen Räumen unterwegs war. Matthias Ginter, der als rechter Innenverteidiger so weit nach vorne schob, dass er mit Kimmich ständig Überzahl erzeugte. „Es war wichtig für uns, dass wir nach dem verlorenen Spiel gegen Frankreich nicht alles über den Haufen werfen, sondern bei unserer Linie bleiben“, meinte Havertz, der seine Nominierung diesmal mit einem starken Auftritt rechtfertigte. Überhaupt fand sich an diesem Tag kein deutscher Nationalspieler, der seine Sache nicht mindestens ordentlich machte.
Ein früher Rückschlag beim Spiel gegen Portugal
Dabei war ja alles mit einem Rückschlag losgegangen: Nach einem deutschen Eckball konterte Portugal über das ganze Feld, am Ende legte Diogo Jota frei vor Manuel Neuer quer auf Cristiano Ronaldo, der locker einschob (15.). Das vorzeitige Vorrundenaus drohte – aber es kam ganz anders. „Wir haben nach Rückstand sehr viel Moral bewiesen und nicht den Faden verloren“, lobte Löw.
Nach einer kurzen Schockphase erhöhte seine Mannschaft wieder den Druck, der dann irgendwann zu viel wurde für die Portugiesen. Die deutschen Tore fielen fast alle nach dem gleichen Muster: Auf der rechten Seite kombinierte sich die DFB-Auswahl nach vorne, zog immer mehr Gegner hinüber – und verlagerte dann schnell auf die linke Seite zu Gosens. Dessen scharfe Hereingabe drückte erst Ruben Dias ins eigene Tor (35.), später nutzte Havertz die Vorlage des Linksverteidigers (51.) und den letzten Treffer erzielte Gosens selbst per Kopf (60.). Nur beim zwischenzeitlichen 2:1 war es anders gelaufen, da nämlich wanderte der Ball von links nach rechts – und am Ende lenkte Raphael Guerreiro den Ball ins eigene Netz (39.).
Die Abwehr von Standardsituationen bleibt ein leidiges Dauerthema
„Wir waren mutiger, kreativer und einfach besser“, freute sich Thomas Müller. „Wir hatten deutlich mehr Freude in der Offensive.“ Dass die Euphorie nicht allzu groß wurde im deutschen Lager, dafür sorgten die deutschen Spieler aber auch gleich selbst: In der 67. Minute blieben sie bei einem portugiesischen Freistoß allesamt stehen und sahen zu, wie Ronaldo den Ball artistisch querlegte und Diogo Jota einschob. Die Abwehr von Standardsituationen, sie bleibt ein leidiges Dauerthema. Und hätte Renato Sanches mit seinem Fernschuss – nach einem Eckball! – statt des Pfostens das Tor getroffen (78.), dann hätte es nochmal ein kollektives Zittern gegeben.
So aber hat die deutsche Mannschaft ihr Schicksal wieder selbst in der Hand, ein Sieg gegen Ungarn reicht in jedem Fall zum Weiterkommen. „Die sind nicht ungefährlich, da müssen wir nachlegen“, mahnte Löw. „Das wird deutlich zäher, die könnten mit acht, neun Mann hinten drinstehen.“
Kimmich präsentiert nach dem Spiel eine veritable Mängelliste
Der 61-Jährige erinnert sich nur zu gut an die Weltmeisterschaft 2018, als dem 0:1 gegen Mexiko ein 2:1-Sieg gegen Schweden folgte – der die trügerische Hoffnung stärkte, nun würde schon alles gut werden, bevor das krachende Scheitern gegen Südkorea folgte. Das aktuelle Aufgebot aber neigt nicht zur Selbstzufriedenheit. Kimmich, nach seinem Gemütszustand nach der Partie befragt, ratterte erst einmal eine veritable Mängelliste herunter, mahnte dringend Verbesserungen bei gegnerischen Kontern und Standardsituationen an. „Wir dürfen nicht überheblich werden“, warnte auch Müller.
Und Löw? Der erlaubte sich doch noch einen kleinen Gruß an alle Kritiker, die ihm zuletzt vorgehalten hatten, dass andere Mannschaften wie Italien sehr viel strukturierter und planvoller spielten. „Es gibt genug starke Mannschaften im Turnier“, sagte er. „Aber die, bei denen alles in den ersten beiden Spielen perfekt läuft, haben in den seltensten Fällen ein Turnier gewonnen.“ Den Traum, mit einem Titel abzutreten, den hat er weiterhin. Und gegen Portugal ist dieser Traum zumindest ein Stück realistischer geworden.