Herne. Der verschuldete Traditionsverein Westfalia Herne steht vor dem Absturz in die Kreisliga. In den besten Jahren war man auf einer Höhe mit Dortmund und Schalke. Heute kommen nur 300 Fans zu den Spielen - in ein Stadion für 32.000 Menschen.
Es ist der eine Punkt in diesem Vereinsheim, auf den sich alles bezieht. Dieses große Foto im Rücken des Präsidiums, die strahlende Vergangenheit, obwohl man sie nur festhielt in schwarz-weiß: Ein Mannschaftsbild also, darunter steht „Westfalia ist Westmeister 1959”.
Aber 1959 ist her, die Gegenwart ist, wovon Horst Haneke gerade redet, der Vorsitzende, von dem kaputten Dach redet er, von der kaputten Heizung und dem für Stunden gesperrten Strom.
Manchmal hilft der Stadtsportbund dem Verein mit ein paar Eimern Farbe. Vor Haneke die Rentner nicken, Jahrzehnte dabei, engagierte Männer alles. Es ist eine Krisensitzung. Sie rauchen zuviel.
Gegründet 1904
Westfalia Herne ist einer der großen Namen. Gegründet 1904. In den besten Jahren auf einer Höhe mit Dortmund und Schalke. Mehrfach in der Endrunde um die Deutsche Meisterschaft. Es folgten 40 Jahre Kapriolen zwischen Liga 2 und 6, darunter die Turbulenzen mit Erhard Goldbach („Ölkönig von Wanne-Eickel”).
Aber so dramatisch wie jetzt war die Lage nie: „Wenn alles nichts nutzt, bleibt nur übrig, die Spiel-Lizenz zurückzugeben”, sagt der Ehrenvorsitzende und Hauptsponsor Jürgen Stienecke. Nach 105 Jahren könnte das Heimspiel am 31. Oktober 2009 gegen Speldorf das letzte sein, Westfalia Herne ginge in die Insolvenz und versuchte den Neuaufbau in der Kreisklasse.
Fallhöhe Westmeister. Damit das klar ist: Kreisklasse ist die unterste, ist die 9. Liga.
371 Zuschauer in einem Stadion für 32 000
100 000 Euro Schulden drücken die Westfalia und eine monatliche Lücke zwischen 15- und 20 000 Euro. Die Gründe sind unschwer zu finden, wenn man mal mit offenen Augen durch das „Stadion am Schloss Strünkede” geht: Da ist die Sponsorenwand, 72 Felder, tapfer steht da die Zimmerei Krupka, Woischwill, der Maler, ein Edeka, das Pfannkuchenhaus – aber die meisten Felder sind frei.
Und da ist der auf eine bodenlose Weise deprimierende Anblick, wenn in einem Stadion für 32 000 Menschen 371 (!) stehen – und, wohlgemerkt, die 371 Zuschauer gegen die Sportfreunde Siegen waren Saisonrekord bisher.
„Man muss heute immer um die Wurst spielen, um Zuschauer zu locken”, sagt Stienecke – da reicht das Mittelfeld in der 5. Liga nicht, in der neuen NRW-Liga, die sie nicht lieben: zu hohe Kosten, zu wenige Derbys. Der Absturz der Zuschauerzahlen in dieser Saison habe aber noch einen Grund: die vermehrte Bundesliga sonntags, in echt und im Fernsehen.
,Gegen den modernen Fußball'
„Wenn Bochum gegen Dortmund spielt, wer soll dann noch zu uns kommen?”, fragt der Sportliche Leiter Timor Camci. Einige hundert Unterstützer hatte man erhofft zum Fanprotest, dann standen da 50, hatten einen Kranz dabei, zwei Grabkerzen und ein Plakat: „Gegen den modernen Fußball”.
Denn das letzte Auswärtsspiel, es ist vielleicht bereits gespielt. 25. Oktober, TSG Sprockhövel gegen die Westfalia, und an der Kasse im Baumhof-Stadion hängt eines dieser Schilder, die man nicht für möglich hält: „Vollzahler 7 Euro, Frauen 5 Euro” – ach, Du wunderbare Welt des Fußballs!
70 blau-weiße Anhänger, vielleicht auch 80 haben die Herner begleitet, „Alles, alles, geht vorbei / doch wir bleiben treu”, rufen sie aus ihrem Drahtkäfig, und: „Kämpfen, Herne, kämpfen”. Was klingt wie ein Generalkommentar, bezieht sich auf den Zwischenstand von 0:1, am Ende hat man 3:1 gewonnen.
„Ich hab' halt 'ne geile Truppe”, sagt dazu der Trainer, der frühere VfL-Bochum-Profi Frank Schulz. Aber insgesamt geht es nicht um Geilheit, sondern leider um Geld – und ihrer Gehälter haben die Spieler erst zwei Tage zuvor bekommen. Die Gehälter für September, versteht sich.
Hoffnung auf 600 Zuschauer
Am Samstag also Speldorf. Das Heimspiel. Sie haben nach neuen Sponsoren gesucht in dieser Woche, Karten auf dem Wochenmarkt verkauft, den Oberbürgermeister eingeladen; der große Traditionsverein hat im Internet um Geld, ja, gebettelt: „Wir benötigen kurzfristig jegliche finanzielle Hilfe, die wir bekommen können.”
Vereinssprecher Klaus Wissing sagt es so: „Wir können nur alle bitten, zu kommen.” 600 bis 900 Zuschauer wären eine Hoffnung, 300 ein Tiefschlag. Hop oder Flop. Leben oder sterben lassen?
„Es würde ein Stück Familie verlorengehen”, sagt Peter Müller (58), Herne-Anhänger seit immer: „Heute sind wir es. Nächsten Monat kann es jeder andere Verein sein.”
Im Vereinsheim ist Müller heute der einzige, der ein Fan-Trikot trägt, über der Rückennummer 9 steht der Name „Abel”. Jochen Abel, der große Mittelstürmer. 2009 auf einem Fantrikot. Dass Abel in Herne spielte, ist über 30 Jahre her.
Mitarbeit: Uwe Ross und Wolfgang Volmer