Essen. Beim BVB überwarf sich Thomas Tuchel mit seinen Vorgesetzten, jetzt steht er mit Paris im Champions-League-Finale. Die Geschichte einer Wandlung.
Thomas Tuchel lächelte. „Ich kann da nichts machen“, sagte der Trainer von Paris Saint-Germain. „Wie soll ich Neymar erklären, wie man ein Tor schießt? Ich habe vielleicht zwei Tore in meiner ganzen Karriere geschossen.“ Gerade hatte der Trainer seinen Klub erstmals ins Finale der Champions League geführt, am Sonntag (21 Uhr/ZDF, Sky, DAZN) geht es gegen Bayern München. Doch die französischen Journalisten sorgten sich um den Topstar Neymar, der beim 3:0 (2:0)-Halbfinalsieg gegen RB Leipzig erneut ohne Tor geblieben war.
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Tuchels Worte zeigten einen erstaunlich entspannten Umgang mit dem brasilianischen Superstar und mit der eigenen Arbeit. Und noch erstaunlicher wurde es, als Thilo Kehrer über die Gründe für den Erfolg sprach: „Wir sind in diesem Jahr als Mannschaft zusammengewachsen“, erklärt der frühere Schalker. Ein „eingeschworener Haufen“ sei die Mannschaft. Und der englische Guardian spendierte nach dem Finaleinzug mächtig Beifall: „Das passiert, wenn die Superstars von Paris Saint-Germain ihr Ego vor der Tür lassen, sich an den Plan von Thomas Tuchel halten und wie eine richtige Mannschaft spielen.“
Der Star ist die Mannschaft? Das ist neu in Paris, wo Neymar 222 Millionen Euro und sein Sturmpartner Kylian Mbappé nicht viel weniger kostet. Doch Tuchel scheint gelungen, woran deutlich namhaftere Vorgänger wie Carlo Ancelotti, Laurent Blanc und zuletzt Unai Emery scheiterten: Er hat diese Ansammlung hochbegabter Diven in bisher zwei Jahren auf eine gemeinsame Spielidee eingeschworen. Weil aus dem Dogmatiker von einst ein pragmatischer Trainer geworden ist.
Fachlich ist Tuchel fast unumstritten
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Fachlich gilt der 46-Jährige seit Jahren als einer der Besten. Selbst Nuri Sahin, den Tuchel beim BVB äußerst selten spielen ließ, nannte ihn „taktisch den besten Trainer, den ich je hatte“. Und Sahin hatte unter Jürgen Klopp und José Mourinho gespielt. Doch da war stets auch die andere Seite. Tuchel konnte sehr hart und unerbittlich sein, wenn die Profis seine detaillierten Pläne nicht umsetzten. Und auch Vorgesetzte bekamen seine Unnachgiebigkeit oft zu spüren.
In Dortmund überwarf er sich mit Chefscout Sven Mislintat, Sportdirektor Michael Zorc und Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke. Und in der Mannschaft gärte es, weil Tuchel einen engen Draht zu den Stars Pierre-Emerick Aubameyang und Ousmane Dembélé pflegte, den er durch diverse Privilegien erkaufte. Andere Profis fühlten sich ungerecht behandelt.
Kritik, weil er den falschen lobte
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Wie sollte das in Paris gut gehen, wo die Bosse sehr viel ungeduldiger und die Egos sehr viel größer sind? Zu viel Party, zu wenig Fußball – das warf nicht nur der jüngst zum BVB abgewanderte Thomas Meunier den Kollegen vor. Ein gefährliches Umfeld für einen Disziplin-Fanatiker wie Tuchel. Der wurde bald ins Büro des damaligen Sportdirektors Antero Henrique zitiert. Des Trainers Vergehen: Er hatte Antoine Griezmann als Favoriten für die Wahl zum Weltfußballer genannt – und nicht Mbappé. Ein anderes Mal beschwerte sich die Entourage des französischen Weltstars vehement, weil sie das Gefühl hatte, Tuchel habe Neymar etwas mehr gelobt als Mbappé. Willkommen auf dem Minenfeld der Eitelkeiten.
Anders als Henrique überstand Tuchel die ersten Schwierigkeiten, auch das frühe Champions-League-Aus im ersten Jahr – und er änderte seine Arbeitsweise, sagen Leute, die ihn schon lange kennen. Öffentliche Kritik an Spielern verkneift er sich, und er reibt sich auch nicht mehr in Debatten außerhalb des Feldes auf. Dennoch wurde spekuliert, dass Tuchel die Stars verloren habe, weil Mbappé bei Auswechslungen zickte und Neymar zurück nach Barcelona wollte.
Mbappé lobt den Mannschaftsgeist
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Öffentlich sprach niemand darüber, doch Mbappé lobte nach dem Finaleinzug sehr deutlich das neue Miteinander in der Mannschaft und speziell mit Neymar: „Wir sind nicht mehr so konzentriert auf uns beide“, beteuerte er. „Wir haben es geschafft zu verstehen, dass wir mit den anderen gewinnen – und nicht nur zu zweit.“ Nicht nur leere Worte: Nach dem Viertelfinale reichte Neymar seine Man-of-the-Match-Trophäe an den Siegtorschützen Eric Maxim Choupo-Moting weiter, im Halbfinale gegen Leipzig ackerte er auch defensiv.
Und Tuchel? Der verzichtete auf wilde Taktikspielchen, nahm sich selbst zurück, damit die Stars glänzen können. „Wenn so viele Variablen im Spiel sind und so viel Qualität drinsteckt, ist der Schlüssel, bei sich selbst zu bleiben“, sagte er. Noch so ein erstaunlicher Satz.