Dortmund. Dortmunds belgischer Motor berichtet erstmals von seinem Unfall. Zudem spricht Axel Witsel im exklusiven Interview über seine BVB-Zukunft.

Ein paar Köpfe drehen sich um, als Axel Witsel die Lobby des Hotels Gran Melia Don Pepe in Marbella betritt. Der Mann fällt auf, selbst wenn er nur in schlichten Trainingsklamotten seines Klubs Borussia Dortmund gekleidet ist. Der markante Afro des Belgiers ist eben ein Hingucker. Auf dem Platz kommt derzeit noch die auffällige weiße Maske hinzu, die Witsel nach einem Unfall tragen muss. Zum Interview aber braucht der 30-jährige diese nicht. Mit offenem Visier spricht der Mittelfeldspieler über die komplizierte Hinrunde, die Pläne für die Rückrunde, ein einschneidendes Erlebnis in China – und seine Pläne für die Zukunft.

Sie sind gelernter Buchhalter, Sie müssen sich also mit Bilanzen auskennen. Wie fällt die für die Hinrunde aus?

Axel Witsel: Wir hätten es deutlich besser machen können. Aber wir sind in der Bundesliga noch nah dran am ersten Platz, alles ist offen.

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Es sind immerhin sieben Punkte Rückstand. Was ist schiefgelaufen?

Witsel: Schwer zu sagen. Die Saison bisher war ein einziges Auf und Ab. Wir haben zu viele Punkte verschenkt in Spielen, die wir eigentlich hätten gewinnen sollen. Freiburg, Hoffenheim, Leipzig. Unter anderem. Wir haben zu viele Fehler gemacht. Jetzt müssen wir aus diesen Fehlern lernen und dürfen sie nicht wiederholen.

In den letzten beiden Spielen gegen Hoffenheim und Leipzig hat der BVB fünf Punkte verschenkt. Sie saßen verletzt draußen – mit welchen Gefühlen?

Witsel: Es ist viel aufreibender, das Spiel bloß anzusehen, als selbst auf dem Platz zu stehen. Gegen Leipzig haben wir dem Gegner die Torchancen einfach geschenkt, das war bitter. Und wir müssen einfach besser spielen, als wir es in Hoffenheim getan haben. Aber wir können viel über verschenkte Punkte und verlorene Spiele sprechen, das ist Vergangenheit. Wichtig ist die Gegenwart.

Hat ihre Mannschaft zu viele Spieler, die nur nach vorne denken?

Witsel: Wir müssen als Mannschaft nach vorne denken, wir müssen offensiven Fußball spielen. Das erwarten die Fans, das erwartet das Umfeld. Aber auch als Offensivspieler hast du Defensiv-Aufgaben, die du erfüllen musst. Denn du kannst heutzutage nicht nur mit einem defensiven Mittelfeldspieler und der Abwehrreihe verteidigen.

24 Gegentore sind deutlich zu viel. Wie lässt sich die Abwehrarbeit verbessern?

Witsel: Auf ganz verschiedene Weise. Nehmen Sie als ein Beispiel Standardsituationen: Als wir da umgestellt haben von Zonendeckung auf Manndeckung, lief es deutlich besser. Darüber hatten wir mit dem Trainerteam gesprochen und dann gemeinsam beschlossen, es umzusetzen.

Die Initiative kam aus der Mannschaft?

Witsel: Wenn du dich als Spieler oder als Mannschaft nicht gut fühlst, musst du das mit dem Trainerteam besprechen. Aber am Ende treffen natürlich die Trainer die Entscheidung.

Apropos Trainer: Lucien Favre stand zwischenzeitlich stark in der Kritik. Können Sie das nachvollziehen?

Witsel: Wenn die Ergebnisse nicht stimmen, wird immer als erstes dem Trainer die Schuld gegeben. Das ist überall so, nicht nur beim BVB. Aber wir Spieler haben die Verantwortung, auf dem Platz unseren Job zu machen. Es ist nicht der Trainer schuld, wir sind ein Team. Und als Spieler müssen wir immer alles geben, um jedes Spiel zu gewinnen.

Wie beurteilen Sie denn Favres Arbeit?

Witsel: Die hat sich nicht verändert. Wir haben in der vergangenen Saison gemeinsam einen fantastischen Job gemacht, die Spieler und der Trainer. Die Hinrunde war ein Auf und Ab, aber wir haben uns ja nicht verändert. Wir haben immer noch die gleiche Qualität, und der Trainer genauso.

BVB-Star Axel Witsel im Gespräch mit Funke-Reporter Sebastian Weßling.
BVB-Star Axel Witsel im Gespräch mit Funke-Reporter Sebastian Weßling. © Funke Sport

Und was sind die Ziele für die Rückrunde?

Witsel: Ich will Titel gewinnen. Darum geht es im Fußball. Ob es die Meisterschaft ist oder der Pokal.

Was können Sie dazu beitragen, wo können Sie sich verbessern?

Witsel: Ich könnte torgefährlicher werden, auch wenn das nicht meine Hauptaufgabe ist. Ich wurde ja nicht gekauft, um jede Saison 20 Tore zu schießen.

Es würde sich aber auch niemand beschweren.

Witsel: Stimmt. Und ich habe mir tatsächlich vorgenommen, mehr Tore zu schießen und mehr Vorlagen zu geben als letztes Jahr.

Stört dabei die Maske, die Sie wegen Ihrer Gesichtsverletzung tragen müssen?

Witsel: Nicht wirklich. Meine Sicht ist dadurch nicht eingeschränkt. Ich soll noch ungefähr einen Monat mit Maske spielen. Mein Ziel ist es, im Champions-League-Spiel gegen Paris Saint-Germain Mitte Februar ohne aufzulaufen. Aber der Arzt ist der Boss. Wenn er sagt, dass ich die Maske noch eine Woche länger tragen muss, mache ich es.

Wie ist der Unfall eigentlich passiert?

Witsel: Da gibt es nicht viel zu erzählen. Ich war zu Hause, bin die Treppe heruntergefallen und habe mir die Nase gebrochen. Ich wurde noch in der Nacht operiert, dann durfte ich mich acht Tage nicht wirklich bewegen. Erst danach konnte ich wieder anfangen zu trainieren. Aber nur sehr langsam, auf dem Ergometer und mit ein paar Fitness-Übungen.

Es mag komisch klingen, aber: Waren sie denn froh, dass das Ganze wenigstens in Deutschland passiert ist, und nicht in China?

Witsel: So ähnlich habe ich tatsächlich gedacht. Ich habe China nämlich unter anderem wegen eines Erlebnisses mit meiner Tochter verlassen. Sie war eines Tages erkrankt und hat sich vor Schmerzen am Boden gekrümmt. Wir sind ins internationale Krankenhaus von Tianjin gefahren, aber die hatten nicht die nötigen Geräte, um meiner Tochter helfen zu können. Also mussten wir in ein kleines chinesisches Krankenhaus. Wir mussten eine Nummer ziehen und dann warten. Das war völlig verrückt, wir haben drei Stunden gewartet. Gott sei Dank ging alles gut. Aber danach habe ich entschieden, dass wir zurück nach Europa gehen. Die medizinische Versorgung ist einfach eine andere.

Bereuen Sie die Zeit in China?

Witsel: Auf keinen Fall. Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, würde ich mich immer für die gleiche Karriere entscheiden. Ich bin sehr dankbar für diese Erfahrung.

Sie kommen aus einfachen Verhältnissen. Inwiefern hat sie das geprägt?

Witsel: Ich bin sehr stolz auf meine Eltern. Und sehr dankbar für das, was sie für mich und meine beiden Schwestern getan haben. Sie haben viele Opfer für uns gebracht. Als meine Mutter mit mir schwanger wurde, war sie 20, mein Vater 21. Ich war sozusagen ein Unfall. Mein Vater hat die Schule abgebrochen und musste einen Job finden, um etwas Geld zu verdienen. Wir haben im Haus meines Großvaters gewohnt. Aber sie haben es geschafft, zurechtzukommen und alles für ihre Kinder zu geben.

Wissen Sie dadurch mehr zu schätzen, was sie jetzt im Leben haben?

Witsel: Natürlich.

Und vermitteln Sie das auch ihren Töchtern?

Witsel: Auf jeden Fall. Gerade, wenn es um Geld geht. Wir leben in einer verrückten Welt. Aber meine Töchter sollen wissen: Ein Euro ist ein Euro. Auch wenn ihr Daddy viel Geld verdient und es der Familie gut geht. Sie werden arbeiten und sich ihr Geld selbst verdienen müssen. Ich versuche, ihnen das weiterzugeben, was ich gelernt und erfahren habe. Meinem Vater war es übrigens auch wichtig, dass ich eine Ausbildung habe – daher der Abschluss in Buchhaltung.

Ihr Vater hat es bis zum Abgeordneten im wallonischen Parlament gebracht. Ist er ein Vorbild für Sie?

Witsel: Oh ja. Und er war immer eine wichtige Bezugsperson, als ich jung war. Obwohl er sehr streng war, gerade in Sachen Fußball. Wir haben nach jedem Spiel miteinander geredet. Manchmal hat er mich dann kritisiert, weil ich schlecht gespielt habe, und ich habe geweint. Heute ist es natürlich eine ganz andere Beziehung. Ich bin jetzt selbst Vater, wir sind beide erwachsen. Und ich weiß selbst, wenn ich gut oder schlecht gespielt habe. Also laufen unsere Gespräche ganz anders.

Haben sie auch ein Vorbild auf dem Fußballplatz?

Witsel: Mein Idol war Zinedine Zidane. Er war so unfassbar elegant und alles sah so mühelos aus. Als würde er nie rennen, sondern nur über den Platz gehen. Er spielte auf eine unfassbare Weise und technisch war ja einer der allerbesten.

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Hätten sie einige Entscheidungen in ihrer Karriere anders getroffen, könnten sie jetzt in Madrid mit ihm zusammenarbeiten.

Witsel: Als ich für Benfica Lissabon spielte, hatte ich tatsächlich ein Angebot von Real Madrid. Aber sie haben sich dann doch für Luka Modric entschieden, der ein fantastischer Spieler ist. Das ist Schicksal, so ist das Leben. Gott hat es einen anderen Weg für mich gewählt, ich landete dann in Russland, dann in China und schließlich in Dortmund. Ich bin sehr glücklich damit.

Ihr Vertrag läuft noch bis 2022…

Witsel: Und den will ich auch erfüllen. Ich fühle mich hier sehr wohl.

Dann wären sie 33. Was kommt danach?

Witsel: Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass ich in der Nähe meiner Familie und meiner Heimat Belgien bleiben möchte, nachdem ich in meiner Karriere so viel herumgekommen bin. Vielleicht kann ich ja nochmal für meinen Jugendklub Standard Lüttich auflaufen. Aber das ist alles noch weit weg.

Und nach der Profi-Laufbahn? Möchten sie im Fußballgeschäft bleiben?

Witsel: Ich will Trainer werden. Ich habe schon begonnen, einen Trainerschein zu machen: die Uefa-B-Lizenz. Der belgische Verband unterstützt mich dabei, einige andere Nationalspieler wie Kevin de Bruyne, Nacer Chadli und Romelu Lukaku machen das auch. Wir sind insgesamt zwölf Spieler. Vor dem Karriereende möchte ich auch noch die A-Lizenz machen. Die Pro-Lizenz kommt dann erst später, dafür hat man als aktiver Profi keine Zeit.

Sie wollen sich den Stress als Trainer wirklich antun?

Witsel: Auf jeden Fall. Das ist auch keine fixe Idee, das habe ich mir wirklich gut überlegt. Den Gedanken trage ich schon ein paar Jahre mit mir herum.