Essen. Thomas Helmer spielte viele Jahre für Dortmund und Bayern. Im Interview spricht der 54-Jährige über das Titelrennen, Mats Hummels und Schalke 04.

Als 21-jähriges Abwehrtalent wechselte er 1986 zum BVB, wurde auf Anhieb zum Stammspieler und gewann mit Dortmund drei Jahre später den DFB-Pokal. Deutscher Meister und Uefa-Cup-Sieger wurde er jedoch erst mit dem FC Bayern: Thomas Helmer (54) hat in seiner Karriere lange für genau die zwei Vereine gespielt, die in der neuen Spielzeit die Favoriten auf den Titel sind. Vor dem Saisonauftakt spricht der Europameister von 1996 über die Bedeutung von Ersatzspielern, den Tritt von Joshua Kimmich und die Titelchancen des BVB.

Herr Helmer, 190 Bundesligaspiele für den BVB, 191 für die Bayern: In Ihrer Brust dürften gleich zwei Herzen schlagen. Welches davon schlägt lauter?

Thomas Helmer: Wann immer der BVB gegen die Bayern spielt, tippe ich 2:2. Ich glaube bloß, das hat es noch nie gegeben (lacht). Mehr kann ich dazu nicht sagen, das würde auch keinem gerecht werden. Ich bin ja glücklich und froh, dass ich für beide so viele Spiele machen durfte. Natürlich schaut man ein bisschen mehr auf die Klubs, bei denen man selbst mal aktiv war. Das gilt aber auch für Arminia Bielefeld, wo ich seinerzeit angefangen habe. Das gehört einfach ein bisschen dazu, zumal man bei den Vereinen ja auch noch den einen oder anderen kennt und dadurch einen besonderen und persönlicheren Bezug hat.

Im Supercup am vergangenen Samstag konnte Borussia Dortmund mit einem 2:0-Erfolg gegen den Double-Sieger aus München ein erstes Zeichen setzen. Startet die Favre-Elf nun mit einem leichten Plus in die neue Saison?

Helmer: Für mich hat das Spiel noch nicht diese Wertigkeit. Aber klar, der Supercup ist ein Titel. Ich kenne das ja noch aus meiner Bayern-Zeit: Einen Titel abschenken, das ist nicht drin. Jedoch ist es noch zu früh in der Saison, um sich ein echtes Urteil darüber erlauben zu können. Beim BVB haben viele wichtige Leute gefehlt, darunter Hummels, Hazard und Brandt. Das würde natürlich dafür sprechen, dass sie noch stärker werden können. Darüber hinaus ist das Transferfenster noch immer geöffnet. Die große Frage ist: Was machen die Bayern jetzt noch?

Was würden Sie ihnen raten?

Helmer: Es gibt im Moment einen Hype um Leroy Sané. Aber egal wie das ausgeht: Er allein wird nicht reichen. Das habe ich auch schon vorher gesagt. Denn für mich, und das ist meine wichtigste Erkenntnis aus dem Supercup, ist ein Thiago kein Sechser. Das war er auch vorher nie, das ist schlicht nicht sein Ding. Auch hier brauchen die Bayern noch jemanden. Einen, der diese Position beherrscht und der die entsprechende Mentalität mitbringt.

„Mats Hummels wird ein wichtiger Faktor sein“

Mats Hummels, Nico Schulz, Julian Brandt und Thorgan Hazard: Der BVB hat im Sommer auf dem Transfermarkt ordentlich zugelangt. Wie schätzen Sie die Neuzugänge ein?

Helmer: Beim Supercup hat mich vor allem gefreut, dass Spieler wie Toprak und Weigl, die eigentlich abgeschrieben waren, einen richtig guten Job gemacht haben. Klar, alle sind noch in der Vorbereitung, das darf man nicht überbewerten, aber für die beiden hat mich das persönlich sehr gefreut. Nico Schulz dagegen wurde von Coman ein ums andere Mal überlaufen. Ich halte ihn für einen sehr guten Linksverteidiger, ich hätte ihn auch geholt. Aber da muss er sich künftig geschickter anstellen – und das im Verbund besser lösen. Es ist nun mal heute so, dass die Spieler alle sehr schnell sind. Für mich wäre das eine Katastrophe gewesen (lacht).

Welche Rolle wird Mats Hummels spielen?

Helmer: Mats Hummels wird in der langen Saison ein wichtiger Faktor sein. Er würde dann ja auch neben Nico Schulz spielen – und kann ihn sicher hier und da mal entlasten und unterstützen. Mats ist sehr geschickt. Und gerade mental ist er sehr gut, er erkennt Situationen sehr, sehr früh. Und nach vorne ist er ohnehin stark, seine Spieleröffnung ist wunderbar. Ich glaube, dass es genau der richtige Schachzug war, ihn zurückzuholen.

Nicht alle haben seine Verpflichtung positiv bewertet. Er ist immerhin schon 30 Jahre alt, rund 30 Millionen sind Euro eine stattliche Ablösesumme.

Helmer: Manuel Akanji ist ein super Junge. Aber er braucht nun einmal jemanden neben sich, der ihm hilft, der ihm auch mal sagt, wie es besser geht, vor allem in Krisensituationen. Nicht nur von der spielerischen Klasse her, auch was die Mentalität angeht, hat der BVB mit Mats alles richtig gemacht, finde ich. Ich teile diese Skepsis nicht.

Abgesehen von Lucas Hernández sind die angekündigten großen Transfers bei den Bayern bis dato ausgeblieben. Könnten die Münchener dadurch ihren Vorsprung verspielen?

Helmer: Ich hoffe sehr, dass die Bayern noch etwas machen. Allein, was die Quantität betrifft, gar nicht so sehr auf die Qualität bezogen. Sie haben einfach zu wenige Spieler. Wenn sich da mal ein paar Jungs verletzen und sie im Frühjahr noch um die Champions League spielen, dann ist da – Stand heute – wenig dahinter, da haben sie großen Nachholbedarf. Ich will nicht sagen, dass ich ein bisschen enttäuscht bin, aber ich habe mir da tatsächlich mehr erwartet. Es müssen ja nicht immer die 100-Millionen-Spieler sein, das hat Dortmund ganz gut vorgemacht. Viermal 25 ergibt eben auch 100 – aber dann habe ich vier Spieler, nicht nur einen. Noch fehlt mir bei den Bayern das Gefühl dafür, wo die Reise hingeht.

„Kimmich hat großes Glück gehabt“

In Ihrer Karriere wurden Sie selbst dreimal deutscher Meister. Ist die Breite des Kaders am Ende entscheidend?

Helmer: Ich glaube schon, dass das den Unterschied ausmachen kann. Da muss der BVB genauso drauf achten wie die Bayern. Raphaël Guerreiro zum Beispiel würde ich an ihrer Stelle nie abgeben. Den finde ich echt gut, im Offensivbereich ist er ein überragender Spieler. Na klar, der Vertrag läuft aus, es ist am Ende immer auch eine finanzielle Frage. Aber wenn ich im nächsten Jahr wirklich die Bayern ärgern und Konstanz reinbekommen will, würde ich einen solchen Spieler nicht ziehen lassen. Dennoch glaube ich, dass der Kader von Borussia zum jetzigen Zeitpunkt besser besetzt ist. Vielleicht nicht stärker, aber breiter. Das könnte am Ende ein Faktor sein.

In der vergangenen Saison gab es an der Tabellenspitze lange nur ein Duell: Bayern gegen Dortmund. Wer kann den beiden Spitzenklubs in dieser Saison noch gefährlich werden?

Helmer: Leipzig formuliert das ja immer als Ziel, trotzdem bin ich da noch ein bisschen skeptisch. Auf Augenhöhe mit Dortmund und Bayern sehe ich im Moment niemanden, wenn ich ehrlich bin. Aber ich finde es gut, dass Leipzig ganz offen sagt: Wir wollen rankommen. Sie haben sehr gute Spieler in ihren Reihen, den Anspruch dürfen sie allemal haben. Aber ob sie das mit ihrer jungen Mannschaft auch so umsetzen können, bleibt abzuwarten. Ich hoffe jedenfalls, wie wir alle, dass es in Zukunft wieder spannender wird – und wir nicht nur einen Zweikampf erleben.
Wobei ein Zweikampf nach den letzten Jahren ja schon ein Fortschritt ist (lacht). Dennoch: So richtig aufrücken sehe ich gegenwärtig keinen.

Das Foul von Joshua Kimmich an Jadon Sancho im Supercup hat abermals eine Diskussion um den Videobeweis entfacht. Schon in der vergangenen Saison sorgte die Neuerung für mächtig Wirbel. Wie haben Sie die Szene gesehen?

Helmer: Da hat Kimmich versucht, sich hinterher rauszureden. Das geht nicht, finde ich. Er kann mir nicht erzählen, dass er bloß schnell den Ball holen wollte. Da hat er großes Glück gehabt. Für mich unverständlich, ich hätte das ebenfalls mit Rot geahndet. Es ist doch klar: Man liegt hinten, will das Spiel schnell machen, und dann nervt dieser Sancho eben – nicht zuletzt, weil er so gut ist, dribbelt und die Leute schwindelig spielt. Das war ein absichtlicher Tritt, da gibt es überhaupt keine zwei Meinungen. Was mich am meisten ärgert, ist allerdings weniger die Entscheidung, sondern vielmehr die Aussagen von Kimmich. „Das war Mist, es tut mir leid, zum Glück ist nichts passiert“ – so herum wäre es richtig gewesen. Denn wenn er ihn anders trifft, bricht er ihm den Knöchel. Bei aller Wut, das muss anders laufen.

Wie ist Ihre persönliche Einschätzung zum Einsatz der neuen Technik? Wird uns der Videobeweis auch in der kommenden Saison auf Trab halten?

Helmer: Ich glaube, wir haben die neue Technik alle befürwortet, auch ich. Ich bin aber trotzdem sehr gespannt, wie sich das entwickeln wird, nun auch in der zweiten Liga. Aber letztendlich, und das haben wir bei der Szene mit Kimmich und Sancho gesehen, entscheiden immer noch die Menschen – und ihre individuelle Wahrnehmung. Der Supercup war natürlich keine Werbung für den Videoschiedsrichter, aber auch daran müssen wir uns gewöhnen. Es wäre gut, wenn sich die Umsetzung weiter professionalisiert, dann ist die neue Technik eine echte Hilfe. Einzig für die Zuschauer in den Stadien ist es manchmal schwierig: Erst bejubeln sie ein Tor, dann ist es doch keines. Das ist natürlich hart.

„Ein starkes Schalke würde der Liga gut tun“

Seit 2015 moderieren Sie den „Doppelpass“ auf Sport1. Welche Gesprächsthemen, welche Debatten sehen Sie in der neuen Saison noch auf uns zukommen?

Helmer: Wie vor jeder Saison fragt man sich natürlich: Was machen die Aufsteiger? Wie gut sind die wirklich? Ich freue mich über Union und Paderborn zum Beispiel, mit ihren kleinen Etats, sowas mag ich. Und in der Hauptstadt jetzt plötzlich einen Konkurrenten zu haben, das spornt die Hertha hoffentlich nochmal richtig an. Sowas ist natürlich schön. Unten wird es immer spannend bleiben, aber auch der Kampf ums internationale Geschäft wird interessant.

Für Gesprächsstoff sorgt immer wieder auch der FC Schalke, zuletzt in Person von Clemens Tönnies. In der vergangenen Saison hat Königsblau lange gegen den Abstieg gespielt, mit dem neuen Trainer David Wagner soll nun wieder mehr Stabilität in die Mannschaft kommen. Wie schätzen Sie S04 vor Saisonbeginn ein, was ist drin?

Helmer: So richtig viel Hoffnung habe ich da im Moment nicht. Schalke könnte nach der vergangenen Saison sogar eine positive Überraschung werden, aber sie könnten auch bleiben, wo sie sind. Das ist aktuell schwer zu beurteilen, das Spielermaterial kann ich noch nicht so recht einschätzen. David Wagner tut sicher gut daran, ein bisschen auf die Euphorie-Bremse zu treten und die Situation realistisch einzuschätzen. Sie kommen von Platz 14. Grundsätzlich kann es ja nur besser werden. Aber ich habe im Moment nicht das Gefühl, dass sie nun auf Anhieb auf Rang 6 springen können – was schade ist. Ein starkes Schalke würde der Liga gut tun. Der Klub hat ein großes Ansehen, aber im Moment bin ich da sehr vorsichtig.

Zum Abschluss Ihr Tipp: Wer wird am Ende deutscher Meister?

Helmer: Eine Prognose ist schwierig, gerade weil die Transferperiode noch nicht zu Ende ist. Sollten die Bayern noch ein paar Spieler holen, unter anderem Leroy Sané, kann alles wieder anders aussehen. Aber ich bleibe dabei: Vielleicht kann der eine oder andere Bundesligist die Bayern in dieser Saison ärgern. Die Dortmunder könnten das mit ihrer Qualität definitiv. Es ist also nicht ausgeschlossen, dass der BVB mindestens einen Titel holt.

>>> Der „Doppelpass“ geht in die nächste Saison

Den Kontakt zur Bundesliga und seinen Ex-Klubs hat der 54-Jährige auch nach dem Ende seiner Karriere nicht verloren.

Heute arbeitet der einstige Libero als Moderator und Sportjournalist beim Fernsehsender Sport1. Seit 2015 moderiert er dort jeden Sonntag ab 11 Uhr den „CHECK24 Doppelpass“.