Berlin. Der Sportphilosoph Gunter Gebauer spricht im Interview über Sittenverfall im Fall Aubameyang, die Rolle des BVB und die Entfremdung der Fans.
Gunter Gebauer hat sein ganzes Berufsleben über den Sport nachgedacht. Der 74 Jahre alte Philosoph und Sportwissenschaftler, der an der Freien Universität zu Berlin emeritierter Professor ist, hat in seinen Büchern und Essays auch über Fußball geschrieben – ein Sport, der ihn fasziniert, aber zunehmend verärgert. In seinem kleinen Büro in Berlin-Dahlem beginnt ein Gespräch über die Goldgräberstimmung auf dem Transfermarkt und die Entfremdung der Fans.
Herr Prof. Gebauer, wenn Sie im Moment auf Ihr Forschungsgebiet, den Fußball blicken, gefällt Ihnen dann, was Sie sehen?
Gunter Gebauer: Nicht besonders. Es gibt zu viele Probleme, die eine Hypothek für die Zukunft des Fußballs darstellen.
Welche sind die größten im Moment?
Gebauer: Die immensen Transfersummen. Die Hervorhebung des Ökonomischen insgesamt. Der Fußball wird überflutet mit Geld von außen. Ob von Einzelpersonen, oder von Staatsfonds wie aus Katar.
Inwiefern gefährdet das den Fußball?
Gebauer: Am Transfer von Neymar für 222 Millionen Euro 2017 lässt sich das gut erkennen: Von einer solchen Summe konnte vorher niemand träumen. Es hat sich aber herausgestellt, dass sie ein wahrer Albtraum für den Fußball ist. Die Preise sind seither explodiert. Wir erleben eine Goldgräberstimmung und das bedeutet eine Zeitenwende im Fußball. Die Sitten werden verändert, die Beziehung zwischen Spieler und Verein werden verändert. Loyalität gilt nichts mehr.
Pierre-Emerick Aubameyang hat sein Ziel erreicht, und einen Wechsel vom BVB zu Arsenal erpresst. Gleiches gab es bei Ousmane Dembele und Philipp Coutinho. Was bedeuten solche Fälle für den Fußball?
Gebauer: Erst einmal hat der BVB wieder einen Spieler verloren, der die Fans und die Mitspieler entzücken konnte. Dortmund hat jetzt nicht nur ein Qualitäts-, sondern auch ein Imageproblem. Denn wieder ist ein besonderer Charakter weg, wegen dem die Leute ins Stadion kamen. Es klingt paradox: Obwohl der BVB sehr viel Geld für Aubameyang kassiert hat, ist er schlagartig verarmt.
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Wechsel können ja passieren. Aber hier wurde ein Verein erpresst.
Gebauer: Ja. Wir erleben gerade einen Sittenverfall im Fußball. Aubameyang hat sich und den BVB blamiert, indem er mutwillig lustlos spielte, ein Sitzung verpasste, um zu einem anderen Klubs zu wechseln.
Es gab früher auch ähnliche Fälle: Thomas Berthold setzte sich beim FC Bayern ein Jahr auf die Tribüne, um nach Stuttgart wechseln zu können. Rafael van der Vaart ließ sich mit Valencia-Trikot fotografieren, als er noch HSV-Spieler war. War der Fußball nicht schon immer so?
Gebauer: Das waren eher Ausnahmen. Nun scheint sich das aber zu häufen. Und im Falle Aubameyang ist doch bezeichnend, dass er nicht einmal einen Wechsel zu einem besseren Klub erzwingt, sondern nur zu einem, bei dem er viel mehr Geld verdient. Hier tritt plötzlich der ökonomische Aspekt im Fußball deutlich nach vorn, der immer schon da war, aber oft gut verdeckt wurde.
Man kann ja sagen, Fußball ist einfach Business, er wird nur als Romantik verkauft...
Gebauer: Im Fußball sind Romantik und Business sehr eng verknüpft. Traditionsvereine sind immer viel mehr wert als junge Vereine wie Hoffenheim oder Leipzig. Das Spiel ist symbolisch aufgeladen, was man an Lokalderbys gut beobachten kann. Nimmt man das weg, ist der Fußball nur noch ein Gekicke. Dann könnte man auch E-Games verfolgen, da sieht man vielleicht sogar bessere Spiele. Nimmt man dem Fußball das symbolische Kapital, bleibt da nicht mehr viel übrig.
Ist das sich Wegerpressen von Spielern ein Angriff auf das symbolische Kapital des Fußballs?
Gebauer: Ja. Und das wird von Leuten unternommen, die keinen Sinn für das Symbolische im Fußball haben.
2017 wurden 4,5 Milliarden Euro für neue Spieler ausgegeben. Durch die enormen Summen und Auswüchse wie bei Aubameyang: Erleben Sie Entfremdungstendenzen bei den Zuschauern?
Gebauer: Ja, absolut. Das Verhältnis zwischen dem Fan und dem Fußball erkaltet im Moment. Die Zuschauerzahlen gehen etwas zurück. Die ökonomischen Interessen der Vereine, der Spieler und Sponsoren sind zu deutlich sichtbar geworden. Für einen guten Kapitalismus ist es wichtig, dass die ökonomischen Motive überdeckt werden. Das heißt nicht, dass das ein Falschspiel ist. Aber nur mit Ökonomie verdient man im Fußball ebenso wenig Geld wie im Showbusiness. Sondern es muss etwas dazukommen. Es muss eine Schicht geben, die darüber liegt. Man will als Fan ja nicht, dass die Leistung, die man geboten bekommt, allein für Geld gezeigt wird. Man will, dass sie aus Leidenschaft entsteht, aus dem Wunsch, zu gewinnen – für die Fans und den Verein.
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Warum stellt der Fußball dann immer weiter das Ökonomische in den Vordergrund, wenn er damit den Zuschauer irgendwann verliert?
Gebauer: Weil der Fußball getrieben wird. Er ist nicht mehr Herr im eigenen Haus. Es sind zu viele Interessen, die von außen hereinkommen. Man muss sich fragen: Warum wird das viele Geld in den Fußball gepumpt? Von Privatpersonen, weil sie sich damit gesellschaftliches Ansehen erkaufen. Oder von Staatsfonds wie in Katar, weil da eine geopolitische Strategie dahinter steckt. Die Finanziers erwerben sich symbolisches Kapital und haben ihre eigenen Interessen. Und dann gibt es die TV-Anstalten, die sich erhoffen, noch mehr Geld einzuspielen, was dazu führt, dass der Spielplan aufgefächert wird.
Müsste man nicht sagen, wir brauchen eine Verschlankungsstrategie im Fußball.
Gebauer: Das ist ja versucht worden – unter Führung von Bayern München. Das Financial-Fairplay, sollte die Ausgaben drosseln. Aber das wird ständig unterwandert. Die Uefa sorgt nicht dafür, dass diese Regeln eingehalten werden, wie wir im Fall Neymar sehen. Und damit verwüstet die Uefa den europäischen Fußball. Es wird dazu führen, dass auch Deutschland nachzieht. Die Rufe werden jetzt schon lauter: Wenn hier nicht bald viel mehr Geld reinkommt, wird die Bundesliga abgehängt im internationalen Vergleich.
Und dann geht es um die 50+1-Regel, die den Einstieg von Investoren wie in England hier nicht zulassen.
Gebauer: Das Gefecht darum hat bereits begonnen. Fällt die 50+1-Regel, wird sich ein Sturzbach über den Fußball hierzulande ergießen und die Vorstellungen, die wir in Deutschland von ihm haben, völlig durcheinander bringen. Es wird höhere Eintrittspreise geben, der Fußball wird als Allgemeingut zunehmend verschwinden, irgendwann gar nicht mehr im Free-TV zu sehen sein. Das kann man nicht gut finden.
Am Wochenende findet der Super Bowl in den USA statt. Dort gibt es eine große Halbzeitshow, die viel Werbegeld einbringt. In Deutschland aber empören sich die Menschen, wenn Helene Fischer in der Halbzeitpause des Pokalfinals singt. Warum?
Gebauer: In Deutschland wird Sport und Showbusiness viel stärker getrennt als in den USA. Bei uns gehört die Halbzeitpause zum Spiel dazu. Das ist der Moment, in dem die erste Halbzeit besprochen, sich ein Bier geholt wird. Da kann ich die Menschen verstehen, wenn sie pfeifen. Wenn Helene Fischer in der Halbzeitpause auftritt, tritt wieder das ökonomische Motiv in den Vordergrund. Vermarktung, mehr Zuschauer gewinnen. Das empört die Leute.
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Kann man sich guten Gewissens auf die WM in Russland freuen?
Gebauer: Ich habe Beklemmungen, wenn ich an die WM in Russland denke. Das Staatsdoping zum Beispiel, die explodierenden Ausgaben. Schon jetzt ist diese WM die teuerste aller Zeiten. Und dazu kommen die nordkoreanischen Zwangsarbeiter in den Stadien und die Korruption. Immerhin wird in Russland wenigstens Fußball gespielt, das kann man von Katar, wo die WM 2022 stattfinden wird, nicht sagen. Aber fest steht: Die Unschuld des Sports wird man in Russland nicht besichtigen können.
Im Zusammenhang mit dem Staatsdoping steht auch die russische Fußballnationalmannschaft unter Verdacht. Sie soll bei der WM 2014 gedopt gewesen sein. Halten Sie es für wahrscheinlich, dass wir bei der WM 2018 gedopte Spieler sehen werden?
Gebauer: Ich halte das für ziemlich wahrscheinlich. Es werden ja gar keine Anstrengungen unternommen, Doping im Fußball zu unterbinden. Es werden nur große Anstrengungen unternommen, zu leugnen, dass Doping im Fußball überhaupt etwas bringt. Was natürlich absurd ist. Und das bezieht sich nicht nur auf die Russen. Wir wissen nicht ganz genau, was mit dem spanischen Team in der Vergangenheit war, aber die Blutbeutel bei Dr. Fuentes lassen darauf schießen, dass auch der spanische Fußball in der Vergangenheit beim Thema Doping involviert war. Und trotzdem bin ich gespannt auf diese WM. Auf das deutsche Team, auf die Franzosen und Belgier. Und darauf, ob die Brasilianer eine Auferstehung feiern können.
Obwohl Sie also beklommen sind, lässt Sie der Zauber des Fußballs nicht ganz los?
Gebauer: Er lässt mich nicht ganz los, aber ich bin mittlerweile so weit, dass ich mich dem nicht naiv anvertrauen werde.
Wenn wir von heute zehn Jahre nach vorn gucken, was werden wir dann für einen Fußball vorfinden?
Gebauer: Ich sehe nicht, dass die Fliehkräfte, die am Fußballs zerren, produktive Kräfte werden, die den Fußball in einer positiven Weise entwickeln. Da sie unkontrolliert sind, wird der Fußball irgendwann an Attraktivität verlieren. Er ist in Gefahr, zu einem reinen Super-Gewinn-Spiel zu verkommen. Das wird immer noch seine Zuschauer finden. Es gibt ja auch Leute, die gern bei der Lottoziehung zugucken. Aber mit dem Fußball, den wir kennen, hat das nichts mehr zutun. Die Bindungskräfte werden sich lockern – die der Fans zum Spiel und die der Spieler zu ihren Vereinen. Und ich sehe auch nicht, wie sie wieder stärker werden können. Das ist nicht schön, aber ich befürchte, dass es so kommen wird.