Dortmund. Ein Dortmunder Junge bescherte dem BVB 1997 mit einem Traumtor den Champions-League-Sieg. Ein Gespräch über Trainingsfleiß und Vereinstreue.
Borussia Dortmunds Nachwuchskoordinator sitzt in einem Raum der Geschäftsstelle an der B1 und schwärmt. Von der Gegenwart, von seinem Beruf, den er „ziemlich cool“ findet. Aber auch von der Vergangenheit, von der glücklichen Fügung, dass er als Dortmunder Junge das BVB-Tor des Jahrhunderts schießen konnte. Im Mai 1997 wurde der damals 20-jährige Lars Ricken in der 70. Minute des Champions-League-Endspiels gegen Juventus Turin in München eingewechselt, und nur elf Sekunden später flog sein genialer Fernschuss zum entscheidenden 3:1 ins Netz. Das Tor seines Lebens.
Weil es so schön nach Ruhrpott klingt, besagt die Legende, dass Helmut Rahn, der WM-Held von '54, in seiner Stammkneipe in Essen-Frohnhausen jahrelang immer wieder zu hören bekommen haben soll: „Komm, Helmut, erzähl mich dat dritte Tor!“ So ähnlich kennen Sie das sicher auch, oder?
Lars Ricken: Natürlich durfte ich die Geschichte von meinem berühmten Tor schon das eine oder andere Mal erzählen (lächelt). Aber noch häufiger erzählen die Leute mir ihre Geschichten dazu. Der eine war gerade auf der Toilette, der andere beim Bierholen, der nächste hat zwei Wellensittiche nach Kalle Riedle und mir benannt. Ein Fan hat zugegeben, dass er mich aufs Übelste beschimpft hatte: Warum geht der Kerl nicht weiter, warum schießt der schon so früh? Und drei Sekunden später hätten alle auf ihm gelegen. BVB-Fans wissen, was sie an dem Tag gemacht haben.
Sind Sie es leid, immer wieder darauf angesprochen zu werden?
Ricken: Nein, ich bin es nicht leid. Im Gegenteil, ich bin dankbar dafür, dass es mir vergönnt war, mit einem Tor etwas zu erschaffen, was über die Karriere hinaus Bestand hat.
Sie haben auf der Bank gesessen und dabei schon gesehen, dass Juventus-Torwart Peruzzi oft weit vor seinem Tor stand.
Ricken: Ich fand es natürlich nicht sonderlich toll, im Finale auf der Bank sitzen zu müssen. Aber Ottmar Hitzfeld hatte mir am Abend vorher erklärt, wie wichtig ich sei, und dass meine Zeit in diesem Endspiel noch kommen würde. Deshalb war ich nicht beleidigt, sondern total aufmerksam. Peruzzi stand permanent zu weit vorne, und schon während der ersten Halbzeit habe ich zu Heiko Herrlich gesagt: Den ersten Ball, den ich kriege, schieße ich direkt aufs Tor. Mit der Haltung bin ich nach meiner Einwechslung ins Spiel gegangen, dann kam der Ball von Andreas Möller so genau, dass dieser Distanzschuss auch noch die beste aller Möglichkeiten war. Es soll jetzt nicht arrogant klingen, aber ich glaube: Bei zehn Versuchen wäre der neunmal reingegangen. Denn das war eine Szene, die ich trainiert hatte. Beim Torschusstraining gab es für mich immer drei Varianten: einen Schuss mit links, einen mit rechts, einen Heber. Unser Torwart Stefan Klos war extrem stark im Eins-gegen-Eins, und um ihn überwinden zu können, habe ich oft versucht zu lupfen. Der Schuss im Finale war also keine Intuition, sondern Umsetzung von dem, was ich gelernt hatte.
Ihre Bogenlampe wurde zum BVB-Tor des Jahrhunderts gewählt, und ausgezeichnet wurden Sie 2009 bei der Jubiläumsshow zum 100. Geburtstag des BVB.
Ricken: Dass ich das Tor als Dortmunder Junge geschossen habe, macht es für mich ganz besonders. In der Westfalenhalle kam mir der circa 50 Meter lange Weg zur Ehrung wie eine Ewigkeit vor. Die Leute standen auf und sangen: Wir sind alle Dortmunder Jungs. Das war der Hammer. Extrem bewegend. Das war mein Moment, den ich brauchte, um mit mir im Reinen zu sein und mit dem Profifußball abschließen zu können. Ich hatte ja zum Schluss in der zweiten Mannschaft gespielt.
Sie waren beim Final-Triumph '97 das Top-Talent in einer prominent besetzten Mannschaft, in der einige Spieler in die Jahre gekommen und oft verletzt waren. Das Team hatte einen Gewaltmarsch durch die Saison hinter sich.
Ricken: Ja, ich glaube, diese Mannschaft war am Zenit. In der Bundesliga sind wir in dem Jahr Dritter geworden, im Jahr darauf nur noch Zehnter. Diese absolute Top-Mannschaft hatte es geschafft, sich in Top-Spielen in der Champions League zu Top-Leistungen zu steigern. Das Niveau ließ sich nicht in allen Wettbewerben halten. Die Bundesliga verlief relativ zäh, da hatten wir schon richtig zu kämpfen.
Eine Woche vor dem Champions-League-Sieg des BVB gewann Schalke den Uefa-Cup. Welche Bedeutung hatte das damals für Sie?
Ricken: Ich war in meinem Tunnel, das war mir damals relativ egal. Aber als Mannschaft haben wir durchaus gesagt: Jetzt setzen wir noch einen drauf. Die Rivalität war ja nicht weg.
Wer so früh so erfolgreich war wie Sie, musste auch in jungen Jahren vieles dafür tun. In einem WAZ-Interview während der WM 2002 haben Sie gesagt: „Wenn du mit 17 Profi wirst, kannst du nicht wie andere in dem Alter um die Häuser ziehen. Aber das wird alles übertroffen durch die Vorteile, die man in unserem Beruf hat.“ Gilt dieser Satz rückblickend auch heute noch?
Ricken: Ja. Ich hatte schon als Kind einen Traum, und den durfte ich leben. Ich glaube, das können nicht viele Menschen von sich behaupten. Es war ein Privileg, alle paar Tage in unserem wunderschönen Stadion spielen zu dürfen und dann auch noch solche Erfolge zu feiern. Als wir 1995 Deutscher Meister wurden und in einem Autokorso durch Dortmund fuhren, ist mir zum ersten Mal richtig klar geworden, was du als Fußballer den Menschen hier geben kannst. Am Borsigplatz jubelten uns Menschen aller Nationalitäten und Hautfarben zu, manche haben uns ihre Kinder entgegengestreckt. So viele Jobs gibt es nicht, bei denen du so eine emotionale Rückmeldung bekommst.
Aber Selbstdisziplin war sicher schon früh nötig?
Ricken: Natürlich. Du bekommst solche Werte ja auch vermittelt, in meinem Fall auch von meinen Eltern. Ich bin in meinem ersten Profijahr ja noch zur Schule gegangen, da musste ich mich gut organisieren. Schon im Jugendbereich habe ich mich seriös und professionell auf die Spiele vorbereitet. Es fing schon ganz früh an. Als ich bis zu meinem zehnten Lebensjahr beim TuS Eving gespielt habe, war ich schon eine Stunde vor dem Training auf dem Platz und habe alleine was mit dem Ball gemacht.
Kommen wir zu einem möglicherweise wunden Punkt. Für jemanden, der einen so rasanten Aufstieg erlebt hat, sind 16 Länderspiele zu wenige, oder?
Ricken: Okay, ich gebe Ihnen Recht, dass 16 Länderspiele aufgrund der Erwartungen nach meinen ersten drei Profijahren mit drei Titeln nicht viele sind. Aber die Zeiten waren noch anders. Mein erstes Länderspiel durfte ich mit 21 bestreiten, da war ich schon Champions-League-Sieger und zweimal Deutscher Meister. Heutzutage wäre ich schon mit 18 auf die 16 Länderspiele gekommen. Aber 1996 bestand die Nationalmannschaft, die Europameister wurde, noch aus lauter Hochkarätern wie Matthias Sammer, Jürgen Klinsmann, Thomas Helmer, Mehmet Scholl – da brauchte man keinen talentierten 19-Jährigen. Da hieß es noch: Der Ricken, alles gut und schön – aber der soll sich erst mal hocharbeiten.
Und dann hat Sie Nationalmannschafts-Teamchef Erich Ribbeck auch noch als Rechtsverteidiger aufgestellt.
Ricken: Danke, dass Sie das erwähnen. Es wurde kritisch gefragt: Warum entwickelt sich der Ricken nicht so wie Raúl oder Del Piero? Die standen im gegnerischen 16-er und machten ihre Tore, ich stand im eigenen 16-er und machte Befreiungsschläge. Meine Stärken aber waren Kaltschnäuzigkeit und Effektivität.
Ihr Nike-Werbespot mit dem berühmten Satz „Ich sehe Typen in Nadelstreifen, ich sehe Geschäftemacherei ohne Ende“ hat 1997 viel Staub aufgewirbelt. War es richtig oder falsch, sich dafür zur Verfügung gestellt zu haben?
Ricken: Ich will das gar nicht so bewerten. Der etwas provozierende Spot war natürlich für manche ein gefundenes Fressen, die Kritiken waren zum Teil vernichtend. Aber ich wurde auf einmal ganz anders wahrgenommen. Vorher war ich der Heavy Metal hörende Popstar, der mit dem silbernen Bravo-Otto ausgezeichnet wurde, danach war die Auseinandersetzung mit mir irgendwie erwachsener. Und, mal ehrlich: An wie viele Werbespots erinnert man sich auch 20 Jahre später noch? Das finde ich schon geil.
Sie sind immer Dortmunder geblieben. Haben Sie das nie bereut?
Ricken: Es gab nie Angebote, bei denen ich hätte schwach werden können. Bayern München hatte '97 mal angefragt, aber da hatte ich gerade meinen Vertrag beim BVB verlängert, und außerdem hatten wir den Bayern doch den Rang abgelaufen. Für die Persönlichkeits-Entwicklung wäre ein Wechsel ins Ausland interessant gewesen, aber Top-Klubs wie FC Barcelona oder Real Madrid haben sich nie gemeldet. Und man wechselt nicht vom BVB zu einem mittelmäßigen Klub im Ausland.
Sie haben mit 31 Jahren Ihren Profivertrag aufgelöst. Früh angefangen, früh aufgehört.
Ricken: Der Moment, als ich „Das war's“ gesagt habe, war eine Befreiung für mich. Es war im Trainingslager der zweiten Mannschaft in Spanien, da merkte ich während eines Testspiels, dass es nicht mehr geht. Es gab dann einen Elfmeter in der 44. Minute, den habe ich mit voller Wucht reingehauen – und dann habe ich mich auswechseln lassen. Ich hatte 15 Jahre mit höchster Belastung hinter mir. Das hatte zur Folge, dass ich definitiv nicht bis zum 35. Lebensjahr weiterspielen konnte. Der FC St. Pauli hatte damals noch mal angefragt, das fand ich ganz spannend. Aber ich habe mir das körperlich nicht mehr zugetraut, in allen Spielen mit der Pauli-Fahne in der Hand vorneweg zu marschieren.
Sie sind heute Jugendkoordinator – das klingt nach einem sehr spannenden Job.
Ricken: Für mich ist es ein absoluter Traumjob. Ich kann mithelfen, dass aus den Jungs gute Fußballer werden. Es kann nicht jeder ein Mario Götze werden, der im WM-Finale das Siegtor schießt, es geht bei jedem darum, dass er das Optimale aus sich herausholt. Außerdem bin ich dankbar dafür, dass ich die Geschicke dieses Vereins mitgestalten darf. In dieser Saison haben schon vier Spieler, die noch in der A-Jugend spielen könnten, in der ersten Mannschaft gespielt – und das bei einem Top-Klub. Das erfüllt mich total. Ich bin als A-Jugendlicher, als Profi und als Nachwuchs-Koordinator Deutscher Meister mit Borussia Dortmund geworden, darauf bin ich stolz.
Hören die Jungen zu, wenn Sie Ihre Erfahrungen weitergeben? Oder winken sie ab, weil sich die Zeiten nun mal geändert haben?
Ricken: Man muss vorsichtig sein mit Sätzen wie „Ich weiß ja, wie das war“. Der Fußball entwickelt sich unglaublich schnell. Aber natürlich kann ich den Spielern bei der Karriereplanung zur Seite stehen, und sie wollen meine Tipps auch hören. Die Spieler registrieren sehr wohl, dass es Trainer, sportliche Leiter, Psychologen und Eltern gibt, die sich mit ihnen beschäftigen und wollen, dass sie gute Fußballer werden und den bestmöglichen Schulabschluss machen. Die Spieler, die die Bereitschaft mitbringen, Ratschläge anzunehmen, haben die besten Chancen. Wer nur sein eigenes Ding durchziehen will, der schafft es heutzutage nicht mehr.