Dortmund. Vor dem Beginn der Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien äußert sich Liga- und BVB-Präsident Reinhard Rauball im Interview mit unserer Redaktion zur Torlinientechnik, dem wachsenden “Gigantismus“ im Fußball und zieht Bilanz der abgelaufenen Saison von Borussia Dortmund.
Reinhard Rauball ist sehr pünktlich in die Tiefgarage der Geschäftsstelle von Borussia Dortmund eingefahren. Zum Gespräch über den Stand der Dinge im deutschen Fußball nach einer intensiven Bundesliga-Spielzeit und vor einer sicher nicht weniger intensiven WM in Brasilien erscheint der BVB-Präsident, 1. Vizepräsident des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) und Präsident des Ligaverbandes in Personalunion dennoch mit leichter Verspätung. Kurze Entschuldigung. Dann fliegen die Bälle.
Als der Schiedsrichter im Achtelfinale der WM 2010 ein reguläres Tor für England gegen die deutsche Nationalelf nicht anerkannt hat: Was haben Sie in diesem Moment empfunden, Herr Dr. Rauball?
Rauball: Da habe ich gedacht: Hätte dieses Tor gezählt, dann wäre das Spiel wahrscheinlich gekippt.
Das ist sachlich. Aber welche Empfindung hat diese Fehlentscheidung bei Ihnen ausgelöst?
Rauball: Meine Empfindung war: Respekt, wie die Engländer das hinnehmen. Das war beispielhaft dafür, wie man mit Ungerechtigkeit umgehen kann. Aber da bin ich schon wieder bei der Sportpolitik: Diese Ungerechtigkeiten müssen auf ein Minimum reduziert werden. Deshalb bin ich ein Befürworter der Torlinientechnologie. Kein Befürworter der Torrichter. Leider können sich FIFA und UEFA nicht verständigen, welches nun die richtige Unterstützung der Schiedsrichter ist.
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Gibt es eine statistische Erhebung der DFL über die Häufigkeit strittiger Tor-Vorkommnisse? Für die Bundesliga gab es – nach der Erinnerung – in dieser Saison lediglich zwei Szenen: Das Tor des Leverkuseners Stefan Kießling durch ein Loch im Netz in Hoffenheim und im Pokal-Finale ein Dortmunder Ball, den der Bayer Dante hinter der Linie wegschlägt...
Rauball: Bei der letzten Mitgliederversammlung des Ligaverbandes wurde eine Studie dazu vorgestellt. Es sind nicht viele strittige Szenen, aber letztlich ist die Technik für mich eine Versicherung. Wir sorgen damit für einen Fall vor, der hoffentlich selten eintritt, aber enorme Konsequenzen haben kann? Stellen Sie sich vor, es hätte ein Phantomtor bei der Relegation gegeben. Aber die Frage, die ich mir auch gestellt habe, lautet: Warum haben eigentlich die Schiedsrichter die betreffenden Spieler nicht klar gefragt: War der Ball drin?
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Beim Phantomtor hätten einfach vorher die Netze kontrolliert werden können. Das ist preisgünstig…
Rauball: Das ist ein zusätzlicher Fehler gewesen. Aber die Möglichkeit, sich mit dem zu unterhalten, der unmittelbar betroffen ist, ist auch in bei den von Ihnen genannten Fällen nicht genutzt worden. Es gibt dazu ein Beispiel in der Geschichte der Bundesliga, Sie werden sich erinnern. Als vor einigen Jahren ein Spieler von Schalke 04 den Ball mit der Hand auf der Torlinie rettete, wurde er vom Schiedsrichter gefragt. Der Spieler antwortete wahrheitswidrig, was im TV deutlich erkennbar war: Ich habe ihn mit dem Kopf gerettet. Er konnte daraufhin gesperrt werden.
Bei der WM wird es die Torlinientechnologie geben. In zwölf Stadien, für geschätzte vier Millionen Euro. Um hier zweierlei zu verbinden: Seit Monaten demonstrieren in Brasilien Menschen mit Transparenten, auf denen unter anderem zu lesen ist: Schulen und Hospitäler nach Fifa-Standard. Provoziert der Fußball in einem Land mit bedeutenden sozialen Verwerfungen nicht geradezu solche Reaktionen?
Rauball: Natürlich ist die Situation problematisch. Ich halte es daher für unumgänglich, dass die Fifa das WM-Pflichtenheft überarbeitet. Es muss geregelt sein, dass nur ein Land eine Bewerbung für die Durchführung einer WM oder einer EM abgeben darf, wenn vorher seriös die Unterstützung der Bevölkerung belegt wird. Die Menschen müssen von Beginn an mitgenommen werden. Und was meiner Meinung nach ein weiteres Fifa-Problem ist: die Aufblähung eines solchen Wettbewerbes, mit so vielen Mannschaften, mit so vielen Stadien. Ich sehe diesen Gigantismus sehr kritisch.
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Fifa-Präsident Sepp Blatter hat nun gesagt, es sei falsch gewesen, die WM 2022 an Katar zu vergeben. Nur weil er wiedergewählt werden, weil er von den aktuellen Problemen in Brasilien ablenken möchte?
Rauball: Ich empfinde die Erklärung als honorig, wenn sie denn ernst gemeint war. Ich war ja einer der ersten Kritiker der Katar-Entscheidung - und habe Sepp Blatter aus anderen Gründen sogar in einem Telefonat mit ihm zum Rücktritt aufgefordert. Dass seine Erklärung aber zu diesem Zeitpunkt gekommen ist: Das hat mich schon verwundert…
Ligapräsident Rauball gegen Scheichs in der Bundesliga
Kann man sagen, der Fußball drängt immer zum Gelde?
Rauball: Das ist mir zu einfach. Als die EM beispielsweise nach Polen und in die Ukraine vergeben wurde, konnte man das nicht behaupten. Und die Vergabe an Brasilien heißt für mich auch nicht: dem Gelde, sondern der Urform des Fußballs entgegen...
Geld kann ja auch viele Probleme bereiten. Eine These: Klubs, die an der Champions League teilgenommen haben, können seriell die Teilnahmen an der Königsklasse reproduzieren und haben Multi-Millionen-Einnahmen immer sicher.
Rauball: Auch das ist zu pauschal. In dieser Saison stand zwar frühzeitig der Deutsche Meister fest, aber alle anderen Entscheidungen sind überwiegend am letzten Spieltag gefallen. Auch die Fans fanden die Bundesliga offensichtlich spannend: Wir haben den zweithöchsten Zuschauerzuspruch in der Geschichte der Bundesliga verzeichnet.
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Es gibt aber doch Stimmen in der Bundesliga, von denen verlautete, dass das Champions-League-Geld breiter verteilt werde sollte...
Rauball: Solidarität ist ein Stützpfeiler des deutschen Fußballs. Darauf können wir stolz sein. Aber wir können den Fußball auch nicht komplett sozialisieren. Der Leistungsgedanke muss der zweite Stützpfeiler sein, denn ansonsten werden wir eines Tages keine Mannschaft mehr im Viertelfinale oder im Halbfinale der Champions League haben.
Ist die 50-plus-1-Regel, die besagt, dass kein Großinvestor einen deutschen Verein übernehmen kann, in dieser Hinsicht nicht auch hinderlich? Scheichs investieren in Paris St. Germain, in Manchester City.
Rauball: Oder wie wäre es mit dem FC Malaga als Beispiel? Dort gab es einen Investor aus dem vorderen Orient, der eines Tages plötzlich sagte: Das war es für mich – und den Club mit enormen Problemen zurückließ. So etwas wollen Sie der Bundesliga andienen? Wollen Sie eine Situation wie in Spanien, wo sich Vereine im zweistelligen Bereich in der Insolvenz befinden und unter der Aufsicht der EU derzeit erklären müssen, wie sie ihre Bilanzen gerade gerichtet haben? Wir wollen das nicht. Und die mehr als 50-jährige Geschichte der Bundesliga gibt uns Recht. Bei uns ist im Laufe einer Saison nie ein Verein in die Insolvenz gegangen.
Dortmund hat ja gezeigt, dass man sich oben etablieren kann unter 50-plus-1-Bedingungen. Wie zufrieden sind Sie mit der titellosen Saison?
Rauball: Es war eine überragende Saison. Schauen Sie doch einmal in die Berichterstattung Ihrer Kollegen nach der Meisterschaft des BVB vor drei Jahren: Das ist eine Eintagsfliege, wurde geschrieben, die werden sich auf Dauer nicht oben halten können. Und diese Meisterschaft haben wir erreicht, ohne Geld aus der Champions League eingenommen zu haben! Ich sage, obwohl wir nicht Meister geworden sind und nicht den Pokal gewonnen haben, aber weil wir Zweiter sind, weil wir wieder im Cupfinale standen: Note eins.
Im Cupfinale waren dann Dortmunder und Bayern am Ende platt wie selten zuvor erlebt. Was erwarten Sie von dieser vor allem aus Spielern dieser Teams zusammengesetzten Nationalelf bei der WM?
Rauball: Ich gehe erst einmal davon aus, dass so durchtrainierte Sportler wie unsere auch schnell wieder zu Kräften kommen werden. Und was ich für Brasilien erwarte: Ich traue der Mannschaft alles zu. Bei einer WM entscheiden aber viele Faktoren – auch Tagesform und manchmal Glück.
Ist für Sie denn nicht die Performance, die Darbietung auf dem Rasen wichtiger als das Resultat?
Rauball: Für mich ist wichtig, dass Performance und Erfolg in ausgewogenem Verhältnis stehen. Das Auftreten der Spieler sollte einer deutschen Nationalmannschaft würdig ist.
DFB-Präsident Wolfgang Niersbach hat bereits erklärt, dass er nach der WM gerne mit Bundestrainer Joachim Löw weiter arbeiten würde. Unterschreiben Sie diese Aussage?
Rauball: Ich unterschreibe diese Aussage, wenn Erfolg und Auftreten stimmen.