Gelsenkirchen. Am Wochenende ist es genau ein Jahr her: Der Tag, als Kevin Kuranyi in der Halbzeitpause des WM-Qualifikationsspiels gegen Russland in Dortmund von der Nationalmannschaft geflüchtet ist. Einen Tag später folgte der Rauswurf durch Bundestrainer Joachim Löw.
Kevin Kuranyi, was geht vor dem Rückspiel am Samstag gegen Russland in Ihrem Kopf vor?
Kevin Kuranyi: Natürlich drücke ich der Mannschaft die Daumen. Da gibt es so viele, mit denen ich mich gut verstehe, so dass ich allen die direkte Qualifikation für die WM wünsche. Ich habe ja eine super Zeit in der Nationalmannschaft gehabt.
Kommt an diesem Tag Wehmut auf? Oder Ärger?
Kuranyi: Es ist schade, wenn man nicht mehr dabei ist. Aber nach einem Jahr mache ich mir nicht mehr so viele Gedanken darüber. Es ist eine Entscheidung getroffen worden, und wie es aussieht, wird sich die wohl auch nicht mehr ändern. Das muss ich akzeptieren.
Wie oft haben Sie es in diesem einen Jahr bereut, dass Sie damals in der Halbzeitpause des Russland-Spiels ganz einfach nach Hause gefahren sind?
Kuranyi: Im Leben gibt es immer wieder Momente, in denen man spontane Entscheidungen treffen muss. Mal sind sie richtig, mal falsch. Damals hatte ich nicht gedacht, dass es so schlimm ist, aber für viele Leute war es wohl sehr schlimm, was ich getan habe.
Können Sie nach einem Jahr sagen, was Ihnen damals durch den Kopf gegangen ist? Warum Sie das getan haben?
Kuranyi: Es ist schwer für mich, und es sind auch viele Sachen zusammengekommen.
Wir haben Zeit . . .
Kuranyi: Ich bin ein Spieler, der versucht, sich seine Chance im Training zu erarbeiten. Keiner, der sich öffentlich darüber beschwert, wenn er nicht spielt. So habe ich es auch gehalten, als ich 2006 nicht bei der WM dabei war, obwohl ich daran hätte kaputtgehen können.
Und dann hat Sie Jogi Löw im Frühjahr 2007 zurückgeholt.
Kuranyi: Ja, und ich habe viele Tore geschossen und der Mannschaft geholfen, dass wir uns für die EM 2008 qualifizieren. Zum Beispiel bei unserem Sieg in Tschechien. Doch bei der EM habe ich dann in keinem Spiel die Chance bekommen, von Anfang an zu spielen, obwohl es in der Mannschaft mit dem Toreschießen nicht gut lief und mir die Trainer gesagt haben, dass ich sehr gut arbeite. Ich habe das akzeptiert und kein schlechtes Wort verloren. Ich wollte nur fair behandelt werden, doch dann erfährt man, dass man beim ersten wichtigen Spiel nach der EM gegen Russland gar nicht im Kader ist. Ausgerechnet in Dortmund sollte ich auf der Tribüne sitzen: Das ist das Schlimmste überhaupt, zumal man da als Schalker angepöbelt wird. Ich bin ja ein Typ, der viel mitmacht, aber irgendwann platzt alles aus einem heraus. Beim Russland-Spiel war es dann soweit.
Joachim Löw warf Ihnen damals vor, Sie hätte die Mannschaft im Stich gelassen.
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Kuranyi: Er wird bestätigen, dass ich ihm damals nach der Mannschaftsbesprechung am Nachmittag gesagt habe, dass ich nach Hause gehen möchte. Das hat er abgelehnt. Und vor dem Spiel wollte ich nicht gehen, um die Mannschaft nicht zu stören. Also bin ich in der Halbzeit gegangen, ohne dass es die Mitspieler abgelenkt hat.
Heute können Sie sehr offen darüber reden.
Kuranyi: Ja. Ich möchte, dass die Leute verstehen, warum ich diese Entscheidung getroffen habe. Das ist menschlich.
Damals musste man befürchten, dass Sie den ganzen Wirbel, der folgte, nicht verkraften würden.
Kuranyi: Ich war total durcheinander. Das war eine Situation, die für mein gesamtes Leben entscheidend war. Ich hätte daran vollkommen kaputtgehen können.
Gab es seitdem in dem einen Jahr noch irgendeinen Kontakt zu Löw?
Kuranyi: Nein. Ich hab danach noch einige SMS von Co-Trainer Hansi Flick bekommen, nachdem ich gute Leistungen gebracht hatte. Darüber hab ich mich sehr gefreut. Inzwischen ist vollkommen Stille. Aber das ist in Ordnung für mich. Kein Problem.
Haben Sie selbst mal überlegt, Löw anzurufen und ihm alles zu erklären?
Kuranyi: Was sollte ich ihm sagen? Bitte, stell mich wieder auf? Für mich als Spieler ist das schwierig. Das würde so rüber kommen, als ob ich mich anbiedern würde, aber das ist nicht meine Art. Ich weiß, dass ich ein paar Sachen falsch gemacht habe. Nun muss ich die Strafe akzeptieren. Schade, dass sie so hart ausgefallen ist.
Unter einem anderen Bundestrainer würden Sie vielleicht noch eine Chance bekommen?
Kuranyi: Das kann ich nicht sagen. Diese Frage stellte sich nicht.
Sie haben damals oft betont, wie sehr Ihnen Schalke in der schweren Zeit geholfen hat.
Kuranyi: Ja, und dafür muss ich mich bedanken. Deswegen versuche ich immer, alles für diesen Verein zu geben, um die Unterstützung mit Toren und mit Leistung zurückzuzahlen.
Sie könnten es auch noch anders zurückzahlen: Ihr Vertrag läuft im Sommer aus, und dem Verein geht es finanziell nicht gut. Ist es vorstellbar, dass Sie verlängern, auch wenn Sie weniger Geld als bisher verdienen?
Kuranyi: Alles ist vorstellbar. Niemand will gerne auf Geld verzichten, aber wenn es sein muss, muss man auch mal einen Schritt entgegenkommen. Doch für solche Gespräche ist es im Moment noch zu früh. Erstmal müssen wir alle helfen, dass Schalke in der neuen Saison wieder international spielt und dabei Geld verdient.
Wie sehr beschäftigt die finanzielle Lage des Vereins eigentlich die Spieler?
Kuranyi: Es ist ja nicht so, dass es dem Verein ganz schlecht geht. Er kann sicher keine teuren Spieler für zehn oder 20 Millionen einkaufen. Aber er kann die Spieler bezahlen, die da sind. Die Gehälter werden alle pünktlich bezahlt.
Wie sehen Sie die sportlichen Perspektiven?
Kuranyi: Ich bin in einem Alter, in dem ich gerne jedes Jahr international spielen möchte. Und Schalke hat sicher die Qualität dafür. Der dritte Platz ist derzeit eine Momentaufnahme, doch wir werden alles dafür tun, um oben zu bleiben.
Zum ersten Mal, seit Sie in Schalke sind, sind Sie aktuell nicht der beste Torschütze: Sie haben erst zwei Saisontore, Jefferson Farfan schon vier. Was ist er für ein Sturmpartner?
Kuranyi: Er ist ein super Spieler. Schon im letzten Jahr konnte man seine Qualitäten sehen, aber er hat ein Jahr gebraucht, um sich auf die Bundesliga und ein neues Land einzustellen. Und jetzt hat ihn unser Trainer auch so fit gemacht, dass er noch besser ist als vorher…
Sie selbst waren ein paar Wochen krank. Sind Sie jetzt wieder vollkommen fit?
Kuranyi: Ich habe jetzt in der Länderspielpause zwei Wochen Zeit, um wieder auf das Niveau zu kommen, das ich am Anfang der Saison hatte, als ich im ersten Bundesliga-Spiel in Nürnberg zwei Tore geschossen habe.
Felix Magath sagt, dass Sie ein Spieler sind, den man oft in den Hintern treten muss, um die beste Leistung herauszukitzeln. Hat er recht?
Kuranyi: Ja. Ich habe immer schon solche Trainer gebraucht. Als Jugendspieler in Brasilien hatte ich über viele Jahre einen ähnlichen Trainer wie Magath. Damals in Stuttgart war ich froh, dass Magath mein Trainer wurde, und jetzt in Schalke bin ich es wieder.
Schafft es Magath, dass Schalke ein Sturmduo Kuranyi/ Farfan bekommt, in dem jeder für 20 Saisontore gut ist?
Kuranyi: Felix Magath kriegt das hin. Es kann aber auch sein, dass jeder von uns nur zehn bis 15 Tore schießt und wir als Mannschaft ganz oben stehen - das wäre mir noch lieber. Aber ob das in diesem Jahr der Fall ist, oder erst in zwei oder drei Jahren, wird man sehen.