Am 10. November 2009 nahm sich Robert Enke das Leben. Eine Nachricht, die ganz Deutschland zutiefst erschütterte. Sein damaliger Trainer Andreas Bergmann erinnert sich an einen Moment, der bis heute andauert.

10. November 2009. Länderspielpause in der Bundesliga. Andreas Bergmann hat seiner Mannschaft zwei Tage freigegeben. Der Trainer von Hannover 96 selbst liegt in seiner Hamburger Wohnung flach. Die Grippe hat ihn in diesen klammen Herbsttagen niedergestreckt. Ein Berg von verrotzten Taschentüchern auf dem Holzfußboden. Der Handrücken auf der heißen Stirn. Irgendwann vibriert Bergmanns Mobiltelefon auf dem Wohnzimmertisch. Jörg Schmadtkes Name blinkt auf dem Display. Andreas Bergmann nimmt das Gespräch entgegen. „Robert ist tot“, hört er den Manager sagen.

„Was?“ Bergmann schnellt in die Höhe. Für eine Sekunde wird es still. Oder ist es eine Stunde? Ein Tag? Der Herzschlag ist in den Ohren zu hören. Es ist, als würde jemand Bergmanns Körper neustarten, ihn herunterfahren wie einen Computer und dann wieder hoch, auf der persönlichen Festplatte nur noch diese eine Nachricht: Robert ist tot. Was?

Warum hat er das getan? Warum?

„Er hat sich das Leben genommen“, sagt Jörg Schmadtke. Andreas Bergmann kann nicht glauben, was er da gerade hört. „Warum hat er das getan? Warum?“ Er lässt sich zurück ins Sofa fallen und schaltet den Fernseher ein. Bahngleise, ein Auto, eine Geldbörse auf dem Beifahrersitz. In der Laufschrift immer wieder: Robert Enke ist tot. Was? Bergmann schlägt die Hände vors Gesicht.

So erinnert sich Andreas Bergmann an den Moment, in dem sich alles veränderte. An diese Sekunde, als seine Ohren hörten: „Robert ist tot.“ Und der Mund nachfragte: „Was?“ Es war etwas geschehen, das nicht geschehen durfte. Fern jeder Vorstellungskraft. „Unfassbar!“, sagt Andreas Bergmann noch heute mit zu Schlitzen zusammengekniffenen Augen.

An jenem Abend läuft er in seinem Wohnzimmer auf und ab. Seine Grippe hat er vergessen. Er telefoniert. Er muss mit jemandem reden. Dann erfährt er von Robert Enkes Krankheit. Von den Depressionen, die ihn schon all die Jahre plattgemacht haben. Robert Enke, wie so viele ihn zu kennen glaubten, auch Bergmann, ist eine Fassade gewesen. Nur wenige Menschen haben dahinter geschaut. Andreas Bergmann ist schockiert: „Ich hatte zuerst eine Riesenwut auf Robert, dass er es mir nicht gesagt hat. Aber ich weiß natürlich auch nicht, was gewesen wäre, wenn...“ Gedankenblitze schießen ihm durch den Kopf. „Vielleicht hätte ich den Spielern auch einfach nicht freigeben dürfen.“ Es ist müßig.

„Eine neue Dimension von Trauer“

Bergmann schaltet das Fernsehgerät ab. Dann sein Mobiltelefon. Er will nicht erreichbar sein für all die Journalisten, die bereits auf Stimmenfang gegangen sind. Er kann sich nicht dazu äußern. Nicht jetzt. Er weiß doch auch nicht, wie es nun weitergehen soll. In der Nacht macht Bergmann kein Auge zu. Im Morgengrauen fährt er nach Hannover.

Ein Meer aus Kerzen, Bildern auf den Treppenstufen

Die Vereinsfahnen vor dem Stadion hängen bereits auf Halbmast. Ein Meer aus Kerzen und Bildern auf den Treppenstufen davor. Weinende Menschen liegen sich in den Armen, stützen, halten einander, so gut es eben geht. Und überall Kameras und Mikrofone. Andreas Bergmann erstarrt. „Es war eine neue Dimension von Trauer“, sagt er. „Wir standen im öffentlichen Fokus. Jede Bewegung, jede Geste wurde von nun an ständig in Zusammenhang gebracht mit Roberts Tod. Es wurde für meine Mannschaft und für das ganze Team ein unglaublicher Spagat zwischen intimer Trauer und Professionalität.“

Am selben Abend noch hält die Landesbischöfin Margot Käßmann die Trauerandacht in der Marktkirche. Am anschließenden Marsch durch die Stadt nehmen 35.000 Hannoveraner teil. Trainer Andreas Bergmann geht vorneweg. In seinen Händen ein schwarzes Banner mit dem Konterfei von Robert Enke. „Ruhe in Frieden“, steht darauf.

„Er schaute doch in die Zukunft“

Auch interessant

Bergmann denkt an das letzte Gespräch mit seinem Kapitän. Auslaufen am Maschsee nach dem Spiel. Es ist nicht lang her. „In den zwei freien Tagen wollte Robert Extraschichten mit unserem Torwarttrainer Jörg Sievers schieben“, sagt Bergmann. „Er schaute doch in die Zukunft.“

Robert ist tot. Dieser Moment am 10. November 2009 ist schwer aufzulösen in all der Zeit, die seitdem vergangen ist. Die Sekunde ist unendlich. Noch heute schlägt Bergmanns Herz schneller, wenn er daran zurückdenkt, an den Anruf von Jörg Schmadtke, die Bilder im Fernsehen. Bahngleise, ein Auto, eine Geldbörse auf dem Beifahrersitz.

Die Erinnerungen sind mittlerweile geordnet, die Erfahrung aber bleibt gespeichert auf der persönlichen Festplatte, für immer. „Das Schicksal eines anderen sollte mein eigenes nicht zu sehr beeinflussen“, sagt Bergmann und atmet tief ein. Und trotzdem tue es das natürlich. „Vielleicht hätten wir ihm helfen können, wenn er uns doch bloß etwas gesagt hätte. Dieser Gedanke wird mich wohl für immer begleiten.“ (11 Freunde)