Essen.
Kurz vor Enkes erstem Jahrestag des Todestags kommt ein Buch über ihn heraus. Geschrieben hat es der Sportjournalist Ronald Reng. Es ist beeindruckend.
Es war kalt an diesem Novembertag im vergangenen Jahr. So kalt, dass die Menschen an dem Bahnübergang in den Feldern vor Hannover Wölkchen atmeten. Robert Enke, der Torhüter der deutschen Fußball-Nationalmannschaft, hatte sich dort in der Dunkelheit des Abends vor einen Zug geworfen. Die Nachricht raste durch Deutschland bis der graue Tag auch noch den letzten Rest seiner Farbe verloren hatte. Enkes Tod, so sagten alle, die darüber sprachen, werde die Welt des Fußballs verändern. Man wolle ab sofort besser aufeinander aufpassen, und wieder stiegen Wölkchen auf.
Doch es kam, wie es so oft kommt. Das Leben geht weiter, und das Schicksal von Robert Enke verschwamm im Laufe der Monate im Hintergrund. Im Fußball passen sie heute so gut oder so schlecht aufeinander auf wie vor fünf oder vor zehn Jahren.
Enkes Karriere
Am heutigen Donnerstag, gut einen Monat vor dem Jahrestag des Todestages, erscheint das Buch „Robert Enke – Ein allzu kurzes Leben“, das der Sportjournalist Ronald Reng geschrieben hat. Man wittert den üblichen Reflex: Zum traurigen Jahrestag wird das Leben des Torhüters wieder prominent in den Medien auftauchen, und jemand möchte mit dem passenden Buch dazu schnelles Geld verdienen. Falsch. Rengs Buch gehört zu den besten Sportbüchern, die in den vergangenen Jahren in Deutschland erschienen sind.
Dennoch: Gießen wir vor dem Aufblättern der ersten Seite noch einmal Wasser in den Wein. Reng, der in Barcelona lebt, für viele seiner Reportagen berechtigte Auszeichnungen erhielt und der auch für diese Zeitung schreibt, war mehr als ein guter Bekannter des Torhüters. Aber darf ein Freund über das Innenleben des anderen schreiben? Darf er die persönlichen Geheimnisse nach dem furchtbaren Tod ausbreiten? Gehört sich das?
Wunderbare Anekdoten
Nein, es gehört sich nicht. Doch es ist in diesem Fall die Ausnahme, die es in allen Regeln gibt. Reng erklärt auf den ersten Seiten des Buches, warum er nach langen Überlegungen und heftigen Zweifeln das Buch schließlich doch geschrieben hat. Er hat oft mit Enke über ein Buch gesprochen, das beide am Ende der Karriere des Keepers gemeinsam schreiben wollten. „Ich habe mir schon Notizen gemacht, damit ich nichts vergesse“, hat Enke einmal zu Reng gesagt.
Es finden sich wunderbare Anekdoten, wie die aus der Kabine von Borussia Mönchengladbach, wo Enke seinen ersten Bundesliga-Vertrag unterschrieb. Der damalige Borussen-Manager Rolf Rüssmann kam nach dem Training zu den Spielern, klagte über trockene Haut und fragte die Spieler nach einer Gesichtscreme. Nationalverteidiger Stephan Paßlack reichte Rüssmann eine Tube, und fünf Minuten später konnte der Manager keine Miene mehr verziehen: Paßlack hatte ihm eine Tube Haargel in die Hand gedrückt.
Doch wo Anekdoten in Sportbüchern oft Selbstzweck bleiben, dienen sie in diesem Fall zur Einordnung und zum Versuch, Enkes Weg in die Depression zu erklären. „Enke“, so schreibt Reng, „machte nie Scherze. Aber er war auf wunderbar schwerelose Weise glücklich, wenn andere in seiner Nähe albern waren.“
Fußball ist die Folie, vor der ein Mensch verzweifelt versucht, seine Krankheit zu besiegen. Selbst die schönen Momente, die Glanzparaden oder die Nominierung für die Nationalmannschaft ziehen oft an Enke vorbei wie Lastkähne, keine Eleganz, keine Leichtigkeit, nur Trägheit und Schwere. Wo findet sich der Weg aus der Dunkelheit?
Es ist beklemmend zu lesen, wie Enke einen Millionen-Vertrag bei Benfica Lissabon unterschreibt, eine Stunde später weinend auf seinem Hotelbett liegt und seine verzweifelte Frau Teresa für den nächsten Morgen die Flucht aus Portugal organisiert. Es ist ein Buch darüber, wie ein Mensch in unserer Leistungsgesellschaft an seiner Krankheit, der Depression, scheitert. Dass dieser Mensch der Nationaltorhüter war, macht die Geschichte für die Öffentlichkeit interessant, ansonsten ist dies reiner Zufall.
Beerdigungs-Tourismus
Doch genau dieser Zufall führt auch noch zu einem letzten Missverständnis im Tode vom Enke. Sein Leichnam wird im Mittelkreis des Stadions von Hannover 96, seinem letzten Verein aufgebahrt. Die komplette Nationalmannschaft erscheint zur Trauerfeier, die Tribünen sind voll, der Ministerpräsident von Niedersachsen spricht. Über dem Stadion kreisen Leichtflugzeuge mit Foto-Reportern. Manchen Gästen erscheint dieser Beerdigungs-Tourismus suspekt. Enkes Mutter erzählt Reng Monate später bei einem Gespräch in ihrer Küche in Jena von ihrem Unwohlsein, als der Sarg ihres Sohnes mitten im Stadion steht. „In diesem Moment dachte ich mir: Mensch, er ist doch nicht Lenin.“