Essen. . Fußballdeutschland diskutiert wieder heftig über den Führungsspieler. Dessen Wesen aber bleibt unbekannt. Die Protagonisten der Debatte: Philipp Lahm, Jogi Löw, Stefan Effenberg, Franz Beckenbauer, Oliver Kahn und Matthias Sammer.
Manchmal gewährt Philipp Lahm seinen Bartstoppeln Freiraum. Dann können die sich entfalten. Dann ist auszumachen: hier wächst was. Würde der 27-Jährige öfter zum Rasierer greifen, könnte er aber noch immer als Pfadfinder durchgehen, einsortiert unter Wölflingen, unter denen, die sich erst langsam an die Pubertät heranschleichen. Rein optisch ist das in Deutschland ungünstig für einen Mann, der beim FC Bayern, der bei der Nationalelf als Kapitän auf der Brücke steht. Rein optisch entspricht Lahm einfach diesem Bild eines deutschen Führungsspielers nicht. Der Führungsspieler hat nie auszusehen wie ein Wölfling. Er hat auszusehen: wie ein Leitwolf.
Führungsspielerdebatte tobt
Gerade tobt sie wieder über das Land hinweg, die Führungsspielerdebatte, diese Debatte, die auf seltsame Weise genau so funktioniert wie das Wetter dieses Sommers. Irgendjemand findet, es müsse endlich wieder die Klage geführt werden, dass der Nation die Effes abhanden gekommen seien. Im aktuellen Fall war das Ex-Bayern- und Nationalelf-Kapitän Oliver Kahn, der Lahm und dessen Doppel-Co-Kapitän Bastian Schweinsteiger für die Titelflaute des deutschen Fußballs mitverantwortlich machte: „Eine Mannschaft braucht heutzutage echte Führungsspieler. Führungsspieler, die den Finger in die Wunde legen, die auch mal unbequeme Wahrheiten aussprechen.“ Und schon ballt sich etwas zusammen. Und schon zucken die Wortgewitter.
Franz Beckenbauer hat sich an der Seite von Kahn eingeordnet. Der einzig wahre Effe Stefan Effenberg hat sich ebenfalls in dieser Männergruppe eingebracht. Und Matthias Sammer, der Sportdirektor des Deutschen Fußball-Bundes (DFB), meint feuerköpfig assistierend: Führung ist wichtig. Überraschungen personeller Natur sind bei der Debatte natürlich kaum zu erwarten. Man weiß, wer gewöhnlich wo einschlägt. Joachim Löw? Richtig. Der Bundestrainer ist den attackierten Lahm und Schweinsteiger mit einer Messlatte für Persönlichkeitsentwicklung zur Hilfe geeilt, die sich auch in der Vergangenheit einsetzen lässt: „Niemand von den ehemaligen Nationalspielern, die sich jetzt in der Führungsspielerdiskussion kritisch äußern, war in diesem Alter nur annähernd so weit mit seinen Führungsqualitäten.“
Er hätte auch sagen können: So weit wie Lahm ist in so jungen Jahren kaum ein anderer die Karriereleiter hochgeklettert. Und bei dieser Kletterpartie wurden beim Weltklasse-Links-Rechtsverteidiger Probleme mit dem Selbstbewusstsein nicht auffällig. Auf der Sachebene nicht: Im November 2009 beispielsweise hat er seinem Arbeitgeber die Leviten gelesen und grobes Versagen bei der spielsystemorientierten Transferpolitik vorgeworfen. Was ihm die höchste Geldstrafe der Klubgeschichte einbrachte. Und auf der Personalebene auch nicht: Im Sommer 2010 brauchte Lahm bei der WM in Südafrika bekanntlich nur ein einziges Interview, in dem er verkündete, dass er die Kapitänsbinde lieber nicht mehr hergeben wolle, um den seinerzeit verletzten Leitwolf und Capitano Michael Ballack so schwer anzuschießen, dass der nie mehr wieder auf die Beine kam.
Kahn wünscht sich mehr Kahn
Dieses so offensichtlich knackharte soziale Durchsetzungsvermögen des Flache-Hierarchien-Predigers spielt in der Debatte allerdings keine Rolle. Kahn wünscht sich schlicht mehr Kahn. Mehr titanische Präsenz. Ein Wunsch, den ihm Lahm schwerlich erfüllen kann. Beckenbauer hat geäußert, Kahns Wunsch sei ein guter. (Siehe oben.) Paul Breitner hat unsere Gesellschaft beobachtet und „junge Menschen“ entdeckt, die sich „nicht mehr rumkommandieren und rumschubsen lassen“. Daran ließe sich etwas ändern. Aber nur sehr langfristig.
Ob all diese Diskutanten zumindest eine ähnliche Vorstellung von dem Gegenstand haben, mit dem sie sich beschäftigen, ist nicht zu ermitteln. Sammer immerhin hat als Verantwortlicher für den Nachwuchs des DFB drei für Mannschaften relevante Charaktere („Führungsspieler, Teamplayer, Individualisten“) herauskristallisiert, die er zu fördern gedenkt. Und das kann absolut nicht schaden. Jeder Jeck ist eben anders.