Berlin. Bundestrainerin Silvia Neid hat von der Stunde Null des deutschen Frauenfußball-Nationalteams vor 29 Jahren bis heute alles miterlebt. 15 Jahre lang hat sie selbst in der Nationalmannschaft gespielt.
Vielleicht muss man einfach einmal alles zusammen rechnen, um zu begreifen, wen man da vor sich hat.
Es ist ja so: 15 Jahre lang hat sie im Nationalteam gespielt, danach war sie acht Jahre lang Co-Trainerin, und dann kommt noch die Zeit als Chefin dazu. Das sind auch schon sechs Jahre, und zusammen gerechnet macht das also 29 Jahre bei der Nationalelf. Das ist ein ganzes Fußballerleben, das ist übrigens auch die komplette Geschichte der deutschen Frauen-Auswahl. Drei Jahrzehnte, und dieses Team ist ganze 40 Minuten ohne Silvia Neid ausgekommen.
Diese 40 Minuten hat es gedauert, bis Gero Bisanz sie 1982 im ersten deutschen Frauen-Länderspiel eingewechselt hat. Silvia Neid muss heute lachen, wenn sie Fotos von damals sieht, die ihre Eltern lange aufbewahrt haben. Man sieht eine zierliche Spielerin, die keine Mode- und Frisuren-Sünde der Achtziger ausgelassen hat, aber Gero Bisanz, ihr Trainer, hat schnell gemerkt, wen er vor sich hatte: „Silvia Neid hat unser Spiel gelenkt, sie hat die Kommandos gegeben, sie hat auf dem Platz schon wie eine Trainerin gedacht.“
Makellose Bilanz
Inzwischen ist sie Bundestrainerin, seit 2005 schon, der Vertrag ist gerade vorzeitig bis 2016 verlängert worden. Dann wird sie 52 Jahre alt sein und das Ende auf der Bank wird in Sicht kommen: Sie wolle nicht ewig dort sitzen, hat sie einmal gesagt, vor allem nicht mehr, wenn sie spüre, dass sie die Jungen nicht mehr erreiche. Noch besteht da keine Gefahr, außerdem ist Neids Bilanz makellos: Vom Großteil der deutschen Fußballfans völlig unbeachtet hat sie eine WM und eine EM als Cheftrainerin absolviert. Und gewonnen, versteht sich.
Das zählt nicht mehr, das weiß sie.
Am Sonntag geht es los, es wird für Neid und ihr Team die größte Herausforderung der Karriere: Eine WM im eigenen Land kommt in einem Fußballer-Leben einmal, auch wenn es so lang dauert wie das von Neid. Sie ist sich der Besonderheit der Situation bewusst, auch des Drucks. Alles erwartet den Titel, den dritten in Folge nach 2003, als sie Co-Trainerin war, und 2007, ihrer ersten WM als Chefin. Vielleicht ist das alles nur auszuhalten, weil die Frauen im Fußball noch weit vom Stellenwert der Männer entfernt sind, man stelle sich diese Ausgangslage einmal bei Joachim Löws Mannschaft vor: das Land würde wohl durchdrehen.
Was sie tut, um die Erwartungen, vor allem die eigenen, nicht zu enttäuschen: arbeiten, als gebe es kein Morgen. Neid hat in der Vorbereitung nichts dem Zufall überlassen, sie hat durchgesetzt, dass die Saison der Bundesliga im Schweinsgalopp zu Ende gespielt wurde, damit sie die Zeit bekam, das Team in sieben Lehrgängen wochenlang vorzubereiten. Sie ist klug und uneitel genug, auf einen Stab von Assistenten und Spezialisten zu setzen. Sie hat einen Kader zusammen gestellt aus Routiniers, die sie duzen und „Silv“ nennen dürfen, und aus den besten Jungen, für die sie Frau Neid ist. Frau Neid hält diesen Kader übrigens für vielseitiger und damit für stärker als den von 2007, was sie jetzt auch öffentlich erklärt hat.
An schlechten Tagen zickig
So etwas kurz vor der WM zu sagen, ist mutig, weil es den Druck noch erhöht. Aber es passt zu Silvia Neid. Viele sagen ihr nach, sie sei schwierig im Umgang, an schlechten Tagen zickig, was vielleicht daher rührt, dass sie die Angewohnheit hat, Journalisten spüren zu lassen, wenn sie ihre Fragen für dumm hält. Man kann es auch so sehen: Neid nimmt sich die Freiheit, ihre schlechten Tage nicht zu überspielen.
Ganz sicher ist Neid ein direkter Mensch, mitunter impulsiv. Streng, sagen viele ihre Spielerinnen. Da stutzt Silvia Neid für einen Moment. Dann sagt sie, dass man außerhalb des Platzes doch viel Spaß habe. Aber wenn es um ihre Arbeit geht, hat sie klare Vorstellungen, die um Disziplin und um gegenseitigen Respekt kreisen. Und letztlich in die Ansage münden: „Ich habe meine Vorstellungen, die setze ich durch.“
Zum Respekt im Umgang zählt auch, dass die 47-Jährige ihre Privatsphäre gewahrt sehen möchte. Man bohrt ab und zu etwas aus ihr heraus: Sie mag schnelle Autos, spielt gern Golf, achtet auf ihre Kleidung, isst am liebsten Tafelspitz mit Meerrettich und hört gerne Musik von Il Divo und Nightwish, das eine ist Mischung aus Klassik und Pop, das andere so genannter Symphonic Metal, was einen relativ ratlos zurück lässt. Aber ergeben diese Versatzstücke das Bild eines Menschen?
Vielleicht hilft ein Satz weiter, den Silvia Neid vor dieser Weltmeisterschaft gesagt hat und in dem sie über Tag eins nach dem Turnier spricht: „Ich möchte dann in den Spiegel schauen und sagen können: Ich habe alles getan.“
Das trifft es wohl. Zusammen gerechnet seit 29 Jahren. Minus vierzig Minuten.