Essen. Der BVB ist am Samstag der klare Favorit im Revierderby gegen Schalke 04. Sky-Experte Dietmar Hamann sieht S04 nicht chancenlos. Ein Interview.

Wenn am Samstag in der Bundesliga nach zwei Monaten wieder der Ball rollt, ist Ex-Nationalspieler Dietmar Hamann als Experte des TV-Senders Sky hautnah dabei. Er glaubt, nach der langen Pause „tappt die komplette Liga im Dunkeln“.

Highlight des Spieltags ist aus Revier-Sicht das Derby zwischen Borussia Dortmund und Schalke 04. Im Interview erzählt Hamann, was er unter den besonderen Bedingungen von der Partie erwartet und erklärt, warum das Geisterderby für S04 ein Vorteil sein könnte.

Außerdem lobt der 46-Jährige die Schalker Verantwortlichen David Wagner und Jochen Schneider und analysiert die Probleme von Königsblau in den vergangenen Jahren.

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Das Ruhrgebiet blickt sehnsüchtig auf das Geisterderby zwischen dem BVB und Schalke 04 am Samstag. Was erwarten Sie unter diesen besonderen Umständen vom Spiel?

Dietmar Hamann: Nicht nur für die Dortmunder und Schalker – für alle Spiele wird es eine enorme Umstellung. Aktuell tappen sämtliche Vereine sportlich im Dunkeln, niemand weiß, wer sich am besten auf diese neuen Bedingungen einstellen kann. Ich glaube, dass es die Mannschaften grundsätzlich etwas näher zusammenbringt, denn die Stärke großer Teams ist es, auf den Punkt da zu sein und alles andere auszublenden – auch wenn die Fans und das Stadion lauter wurden. Nun muss diese Spannung komplett intern erzeugt werden, da von den Zuschauern keine Rückmeldung kommt. Und so ist es unheimlich schwer in den Wettkampfmodus zu kommen. Einige Vereine werden kreativ und innovativ gearbeitet haben, um die Spieler auf diese Geisterspiele vorzubereiten.

Ist es ein Vorteil für Schalke, dass sie im Auswärtsderby vor Geisterkulisse ran müssen?

Ich kann mir vorstellen, dass es den Schalkern hilft, dass der BVB ohne die Unterstützung der eigenen Fans auskommen muss. Es wird häufig vom Heimvorteil gesprochen, doch es gibt auch Situationen, in denen Heimspiele hemmend auf Spieler wirken können, denn der Druck und die Erwartungshaltung ist eine komplett andere. Bestes Beispiel dafür ist Werder Bremen, die sich in der laufenden Saison im Weserstadion extrem schwertun. Für sie könnte es ein Vorteil sein, dass sie nun nicht mehr vor ausverkauftem Haus spielen.

Kaum vorstellbar, dass er nochmal Königsblau trägt: Sebastian Rudy im Juli 2019. Kurz danach wechselte er nach Hoffenheim.
Kaum vorstellbar, dass er nochmal Königsblau trägt: Sebastian Rudy im Juli 2019. Kurz danach wechselte er nach Hoffenheim. © RHR-FOTo

Mit Axel Witsel, Marco Reus und Emre Can fehlen dem BVB im Derby drei Schlüsselspieler, während bei den Schalkern einige Leistungsträger wieder zur Verfügung stehen. Ist Dortmund dennoch der Favorit?

Der BVB ist noch immer Favorit, doch ich sehe sie nur ganz leicht im Vorteil. Durch die Verletzungssorgen und ohne die eigenen Fans im Rücken erwartete ich ein ausgeglichenes Spiel. Gerade, weil sich die Personalsituation auf Schalke deutlich entspannt hat. Auch die schlechte Stimmung, die vor der Pause herrschte, scheint vergessen.

Sie sprechen es an: Vor der Bundesliga-Zwangspause präsentierte sich Schalke in schlechter Form. Die letzten sieben Ligaspiele wurden nicht gewonnen.

Wenn man so lange nicht gewinnt und die Leistungen dabei nicht stimmen, wird es zu einem psychologischen Problem. Deshalb wird es den Schalkern geholfen haben, dass sie in den vergangenen Wochen Zeit hatten, diese Spiele aufzuarbeiten. Spielerisch war es in den vergangenen Partien wirklich nicht schön anzuschauen. Trotzdem glaube ich, dass Trainer David Wagner ein sehr guter Griff war.

Warum?

Er ist ein unheimlicher Fachmann und hat den gesunden Menschenverstand und die Empathie, die nötig ist. Er ist niemand, der große Töne spuckt – und dazu hat man auf Schalke in den vergangenen Jahren teilweise geneigt. Auch, als es zu Saisonbeginn gut lief, ist er ruhig geblieben und hat nicht plötzlich von der Champions League gesprochen. Ich glaube, dass Schalke mit ihm in bessere Zeiten steuern wird. Mit Wolfsburg und Hoffenheim werden sie sich in den letzten neun Spielen einen heißen Kampf um Europa liefern.

Im Sommer droht dem Klub ein erneuter personeller Umbruch, denn die Zukunft von Leihspielern wie Jonjoe Kenny und Jean-Clair Todibo ist ungewiss. Auch die Verträge von Benjamin Stambouli und Daniel Caligiuri laufen aus.

Für Schalke ist es langfristig schwer, ganz oben mitzuspielen, wenn sie immer wieder internationale Top-Spieler ablösefrei abgeben. Bei Sky haben wir in der historischen Konferenz zuletzt ein Spiel zwischen Schalke und Wolfsburg gezeigt, da saßen Jungs wie Leroy Sane, Max Meyer und Joel Matip auf der Bank. Sead Kolasinac, Leon Goretzka und Kevin-Prince Boateng standen damals nicht im Kader, da sie verletzt waren und trotzdem hatten sie eine Top-Mannschaft auf dem Feld.

Zu den ablösefreien Abgängen kommen teure Neuverpflichtungen, die in den vergangenen Jahren ihre Erwartungen nicht erfüllen könnten.

Nabil Bentaleb etwa kannte ich aus England und man hätte wissen müssen, dass der Transfer ein Risiko ist. Es hätte super funktionieren, aber auch total in die Hose gehen können. Auch Sebastian Rudy hat auf Schalke nicht funktioniert – doch beide als Fehleinkäufe abzustempeln, ist mir zu einfach. Als Verein muss man immer ein Umfeld schaffen, in dem sich Spieler entfalten können und das war auf Schalke in der Vergangenheit nicht der Fall – ganz ähnlich wie beim HSV oder dem VfB Stuttgart. Viele Spieler, die zu Schalke gewechselt sind, haben sich verschlechtert. Es muss in der Führungsetage eine gute Struktur geschaffen werden und mit Jochen Schneider hat der Klub nun einen Sportvorstand, der mit seiner ruhigen Art sehr gut in dieses hitzige Umfeld passt. Zusammen mit Wagner kann er erreichen, dass Spieler auf Schalker wieder besser werden und nicht anders herum, wie zuletzt Rudy.

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Warum ist er auf Schalke nicht zurechtgekommen?

Rudy ist ein Stratege und für das Gleichgewicht einer Mannschaft unheimlich wichtig. Ich persönlich mag sein Spiel sehr gern. Dass er ein guter Fußballer ist, hat er zuvor lange genug bewiesen – nicht umsonst hat er es zum FC Bayern und in die Nationalmannschaft geschafft. Aber er ist ein ruhiger Typ und das kann man nicht ändern. Mit seiner Art hätte er in der Mannschaft integriert werden müssen, anstatt zu erwarten, dass er sich auf Schalke komplett neu erfindet. Ich habe das Gefühl, dass dieser Transfer vom ersten Tag zum Scheitern verurteilt war – und das lag nicht am Spieler.

Deutlich besser konnte Borussia Dortmund in den vergangenen Jahren seine Neuzugänge integrieren. Speziell dank der Youngsters Jadon Sancho und Erling Haaland schielt man in Dortmund noch in Richtung Meistertitel. Glauben Sie, der BVB kann trotz Rückstand von vier Punkten auf der FC Bayern noch mal angreifen?

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Wenn die Saison normal zu Ende gespielt worden wäre, hätte ich mir schwer vorstellen können, dass der FC Bayern den Titel noch aus der Hand gibt. Durch die komplett neue Situation kann ich mir aber vorstellen, dass Dortmund, aber auch RB Leipzig noch in den Titelkampf eingreifen können. In jedem Spiel sind die Bayern jetzt sehr viel weniger in der Favoritenrolle als sonst. Es ist alles offen und ich glaube, dass es zu einigen verrückten Ergebnissen kommt.

Bei Borussia Dortmund gibt es seit Monaten Gerüchte um die Zukunft von Jadon Sancho. Sorgen solche Geschichten innerhalb der Mannschaft für Unruhe?

In der Mannschaft ist es kaum Thema. Wenn ich beim BVB spielen würde, würde ich lieber mit einem Jungen zusammenspielen, an dem Manchester United interessiert ist als mit einem, den kein anderer Klub verpflichten will. Es ist immer eine Auszeichnung, wenn solch große Vereine anklopfen. Doch ob er wechselt, entscheiden nicht ManUnited oder der FC Liverpool, sondern in erster Linie die Dortmunder.