Sao Paulo. Seinen ersten Formel-1-Titel holt Lewis Hamilton 2008 in Brasilien. Mitarbeiter Christian Woop erinnert sich an ein Rennen im Regenchaos
Mit der Formel 1 ist es so eine Sache. Entweder man liebt sie oder hasst sie. Jeder hat seine Meinung. Von großartig über langweilig bis hin zum Totschlagargument: „Das ist doch kein richtiger Sport!“ Gibt es auch falschen Sport?
Ein Wecker für die Rennen in Übersee
Sport oder nicht Sport? Das ist hier nicht die Frage. Für mich ist diese Rennserie eine motorisierte Kindheitserinnerung. Ich erinnere mich an Übertragungen auf einem gewaltigen Röhrenfernseher. Michael Schumacher ist ein Kindheitsheld. Fahrzeug, Werkstatt und Team-Lkw standen aus Lego-Steinen gebaut im Schrank. Einen Wecker stellte ich mir für die Rennen in Übersee, für einen Sportler tat ich das erst wieder bei Dirk Nowitzkis NBA-Titel 2011. Zur F1-Saison 2004 habe ich als Achtjähriger ein eigenes Sonderheft gebastelt, in dem ich Fahrer, Teams und Strecken vorstellte. Auf der Playstation fuhr ich selbst. Mich faszinieren Rad-an-Rad-Duelle bei 350 Sachen. Wie die Piloten ihre Boliden durch die Kurven werfen können, weil die Reifen wie Kaugummi auf dem Asphalt kleben. Wie die klugen Köpfe an den Kommandoständen das Rennen auf die Sekunde berechnen können. Auf der anderen Seite die ständige Unberechenbarkeit: Hält das Auto, geht was schief, kommt Regen? 2006, nach Schumis erstem Rücktritt, blieb ich dabei. Zum Glück. Sonst würde ich diese Zeilen über das spannendste Saisonfinale der jüngeren Formel-1-Geschichte nicht schreiben.
Zweikampf um dem WM-Titel
Denke ich an die Formel 1, kommt mir als erstes dieses Rennen in den Sinn: Der Große Preis von Brasilien 2008. Er vereint alles, was ich an dieser Rennserie so sehr mag und fasziniert mich bis heute. Die Weltmeisterschaft ist in diesem Jahr ein Zweikampf: Ferrari gegen McLaren Mercedes, Felipe Massa gegen Lewis Hamilton. Und beide Fahrer haben an diesem 2. November in Brasilien die Chance, zum ersten Mal Weltmeister zu werden. Zur Ausgangslage: Sieben Punkte trennen den Gesamtführenden Hamilton von Massa. Bei einem Sieg des Brasilianers reicht dem McLaren-Piloten Platz fünf. Angesichts der Dominanz der beiden Top-Teams eigentlich eine sichere Sache für den Briten, der von Position vier ins Rennen geht. Eigentlich.
Wenn es regnet, wird es spektakulär
Dieser geschichtsträchtige Brasilien-Grand-Prix beginnt im Regen. Ich hocke zuhause vor dem Fernseher im Trockenen. Der Start wird wegen des vielen Wassers nach hinten verschoben. Klar ist: Wenn es regnet, wird es spektakulär. In der Tat: Safety Car, Unfälle, Überholmanöver. Mittendrin Hamilton, der sich die ganze Zeit an der Grenze zu Position fünf bewegt, während Massa vorneweg souverän seine Runden dreht. Zwischendurch rutscht Hamilton mal auf den siebten Rang ab, überholt dann Fisichella und profitiert vom Ausfall von Trulli.
Wieder kommt der Regen
Das alles ist fast egal, weil fünf Runden vor Schluss wieder Regen einsetzt. Massa Erster, Hamilton Fünfter. Sebastian Vettel im unterlegenen Toro Rosso, aber mit viel Talent im Nassen ausgestattet, jagt Hamiltons McLaren um den 4,309 Kilometer langen Rundkurs von Sao Paulo. Dann begeht der WM-Führende einen Fehler, kommt in der Kurve zu weit raus, so dass Vettel innen vorbei schlüpft. Hamilton muss in den letzten Runden diese eine Position gut machen, liegt jetzt auf Platz sechs. Vor dem Duo, das seitdem viele WM-Duelle untereinander ausgefochten hat, fahren neben Massa auch Fernando Alonso (Renault), Kimi Räikkönen (Ferrari) – und Timo Glock im Toyota. Der Deutsche hat im Gegensatz zu den anderen Autos der Spitzengruppe nicht auf Intermediates gewechselt, sondern blieb auf Trockenreifen. Das geht auch noch eine Zeit lang gut, doch mit nasser werdender Strecke ist Glock auf den falschen Pneus völlig chancenlos.
Emotionale Reaktion des Fernsehreporters
Massa bekommt das alles gar nicht mit. Bei der Zieldurchfahrt streckt der Lokalmatador den Zeigefinger in die Luft, jubelt über den sicher geglaubten WM-Titel. Über 100.000 Brasilianer feiern das an der Strecke. Das TV-Bild schwenkt um: Vettel und Hamilton überholen plötzlich in der allerletzten Kurve der Saison den überforderten Glock. Hamilton ist nun auf dem fünften Platz, der ihm zum Titel reicht. Premiere-Kommentator Jacques Schulz, der gewiss nicht dafür bekannt ist, Rennen emotionslos zu kommentieren, beschreibt das Manöver ganz sachlich. Wenige Sekunden später merkt er, was das bedeutet: „Jaaa, Hamilton hat’s! Hamilton ist Weltmeister!“, brüllt Schulz ins Mikro, als Hamilton 39 Sekunden nach Massa die Ziellinie überquert.
In der Ferrari-Box liegt sich Massas Entourage in den Armen. Hamiltons Freundin Nicole Scherzinger springt zeitgleich durch das Fahrerlager, feiert den Titel. Dann wieder ein Schwenk: Ein Ferrari-Mechaniker mit roter Sturmhaube überbringt Papa Massa die Nachricht, dass Hamilton Glock überholt und Sohn Felipe um einen Zähler die Weltmeisterschaft verpasst hat. Später erhält Glock von Ferrari- und Massa-Fans Drohungen. „Wir haben schon viel gesehen, aber das hat, glaube ich, alles geschlagen“, resümiert Schulz am Mikro. Eingeblendet wird die Anzeige „Sieger: Massa“. Den großen Titel hatte er für 39 Sekunden, er ist nun der tragische Verlierer.
Massas letzte Chance
Was zu diesem Zeitpunkt niemand wusste: Es war Felipe Massas letzte Chance auf den WM-Titel. Ungefähr zehn Monate später hat der Brasilianer einen schweren Unfall. Beim Großen Preis von Ungarn trifft ihn bei 240 Stundenkilometern eine Dämpfungsfeder am Kopf, er kracht bewusstlos in einen Reifenstapel. Der heute 38-Jährige kam zwar zurück in die Formel 1, erreichte aber nie wieder sein altes Niveau. Der Sieg in Brasilien 2008 ist bis heute sein letzter. Lewis Hamilton steuert fast ungefährdet auf seine sechste Weltmeisterschaft zu.