Berlin. Jerome Boateng ist für Bundestrainer Joachim Löw eine verzichtbare Größe bei der WM. Beim Testspiel gegen Brasilien darf er Kapitän sein.

Joachim Löw hat viele gute Eigenschaften. Eine ist zum Beispiel, dass der Bundestrainer bisweilen demonstrativ unaufgeregt reagiert, wenn er öffentlich zu Dingen befragt wird, zu denen er nicht sofort Antworten parat hat. Am Montagmittag wurde dieser Herr Löw gefragt, wer denn eigentlich die deutsche Nationalmannschaft am Dienstagabend (20.45 Uhr / ZDF live) in Berlin als Kapitän aufs Feld führen wird, wenn die Testbegegnung gegen Brasilien ansteht.

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Löw versuchte mitnichten zu kaschieren, dass er darüber nun wirklich noch nicht nachgedacht hatte, weil das Thema noch keine Relevanz für ihn gehabt hatte. Löw überlegte also, überlegte lang. Es entstanden Sekunden der Stille, die Löw gelassen aushielt. Offenbar ging der 58-Jährige die Kandidaten durch. Manuel Neuer? Verletzt. Sami Khedira? Angeschlagen, Einsatz fraglich. Thomas Müller? Bereits abgereist. Wenn alles kommt, wie erwartet, "dann wird Jerome Boateng Kapitän sein", sagte Löw also.

Boatengs Reise begann in Berlin-Charlottenburg

Die Frage nach dem Kapitän mag für den Bundestrainer noch nicht von existenzieller Bedeutung gewesen sein, für Boateng bedeutet die Antwort aber, dass sein Auftritt in der alten Heimat geadelt werden könnte. Rückkehr als Chef, als Anführer. Die Armbinde als sichtbares Signal einer Reise, die einst in Charlottenburg begann, wo er geboren wurde, wo er zur Schule ging und sich auf den Hartplätzen sowie bei Hertha BSC (2002 - 2007) durchkämpfte. Jetzt Kapitän. Zeichen seiner Unangreifbarkeit unter Löw. "Als kleines Kind habe ich davon geträumt, mal im Olympiastadion gegen Brasilien zu spielen. Es freut mich, dass ich morgen dieses Spiel in meiner Heimatstadt absolvieren darf", sagt der Verteidiger von Bayern München, dessen Status mittlerweile derart unzweifelhaft ist, dass er sich erlauben kann, öffentlich Kritik auch an den Kollegen zu äußern.

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"Was ich gesagt habe, war gar nicht so schlimm", meinte Boateng - feines, goldenes Brillengestell, goldene Uhr, goldene Ringe und Ketten - am Tag vor der Leistungsprüfung gegen Brasilien. Der fußballerisch hochwertige Test gegen Spanien (1:1) am Freitag hatte ihm nicht zugesagt und auch drei Tage später konnte er keinen Gefallen daran finden: zu viele Fehler im Passspiel, zu wenig Zielstrebigkeit vorne, zu wenig Sicherheit hinten. "Wir wollen im Sommer erfolgreich sein", mahnt er mit Blick auf die Weltmeisterschaft in Russland, in die Deutschland als Titelverteidiger starten wird. "Ich finde es besser, Nachlässigkeiten klar anzusprechen, als sie einfach verstreichen zu lassen und uns blöd anzugucken, wenn die WM vorzeitig vorbei ist." Dieser Wesenszug dürfte ein Grund für Löws Wertschätzung dem 29-Jährigen gegenüber sein. "Für einen Trainer ist es gut, wenn Spieler auch nach einem guten Spiel selbstkritisch sind", sagte Löw: "Deutschland kann, muss und wird sich steigern."

Brasilien erlebte 2014 eine der denkwürdigsten Niederlagen

Für die Brasilianer muss das schon wieder wie eine Drohung klingen. Noch immer leidet das Land still, aber schmerzhaft an dem Trauma des Halbfinals 2014, als der WM-Gastgeber gegen Deutschland eine der denkwürdigsten Niederlagen der internationalen Fußball-Geschichte erlebte. 1:7. In Worten: eins zu sieben. Die Begegnung in Berlin ist das erste Wiedersehen seit jenem Tag damals. "Was das bedeutete, habe ich erst so richtig nach dem Abpfiff verstanden, als ich die Zuschauer auf den Rängen gesehen habe mit Tränen im Gesicht. Das war schon emotional", sagt Boateng: "Wir müssen uns darauf einstellen, dass wirr auf in starkes und motiviertes Brasilien treffen werden." Löw verpackt all das in ein Wort und vermutet "Revanchegelüste" beim Gegner, der sich mit einem guten Spiel in Deutschland beweisen will, dass die Vergangenheit ruhen sollte.

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Ohnehin, darauf verweist Löw, seien vier Jahre vergangen, bei den Brasilianer stünden nur noch sehr wenige von jenen Spielern auf dem Platz, die das Desaster damals miterlebt hatten. Der Gegner hat sich entwickelt, hat sich unter dem neuen Nationaltrainer Tite um defensive Stabilität bemüht, während die deutsche Elf vor allem ihren taktischen Variantenreichtum erweitert hat, in dem sie zum Beispiel die defensive Dreierkette in ihr Portfolio aufgenommen hat. In dieser Formation wurde 2016 erstmals bei einem großen Turnier Italien geschlagen. Heute gegen Brasilien dürfte sie ebenfalls zum Einsatz kommen. "Die Vorteile sind, dass man reagieren kann auf den Gegner oder einen Spielstand. Das gibt uns einfach mehr Möglichkeiten", sagt der, der nicht nur die Dreierkette befehligen wird, sondern vermutlich auch die Mannschaft anführen. Als Kapitän. In Berlin.