Berlin. DFB-Teamspychologe Hans-Dieter Hermann begleitete Per Mertesacker. Im Interview spricht er über den Druck als Fußball-Profi und Matthäus’ Kritik.
Als Hans-Dieter Hermann vom Leiden des Per Mertesacker las, meldete er sich sofort beim Weltmeister von 2014. Hermann ist seit 2004 Teampsychologe der deutschen Nationalmannschaft. Er hat Mertesacker lange begleitet. Die Äußerungen des ehemaligen Nationalspielers Mitte März, er habe seine ganze Karriere unter enormem Druck gelitten und sei an Spieltagen von Brechreiz und Durchfall geplagt, haben eine Debatte über Stress im Profifußball ausgelöst. Im Interview erzählt Hermann, warum Spieler heute unter höherem Druck stehen als früher, was er von Lothar Matthäus‘ Kritik an Mertesacker hält, und er gibt Einblick in die Führungsstrategie von Bundestrainer Joachim Löw. Was er Mertesacker selbst sagte, verrät der 57-Jährige nicht. Seine Arbeit, das macht er klar, beruhe auf Vertraulichkeit.
Herr Dr. Hermann, haben Sie die Äußerungen von Per Mertesacker überrascht?
Hans-Dieter Hermann: Es hat mich nicht gewundert. Wenn man vom Fach ist, dann sieht man natürlich, ob jemand mehr oder weniger unter Anspannung leidet. In dem Moment, in dem ein Spieler aber signalisiert, dass das allein seine Sache ist, respektiere ich das. Es hat mich jedoch überrascht, dass Per dieses Thema in dieser Klarheit und Detailliertheit noch vor dem Ende seiner Karriere zum Ausdruck bringen möchte.
Wie wichtig ist dieser Beitrag?
Hans-Dieter Hermann: Ich finde es sehr gut, was Per gesagt hat. Er stößt eine wichtige Debatte an. Allerdings liegt darin eine Schwierigkeit. Spieler sind keine Opfer. Den Eindruck wollte Per auch nicht erwecken. Er und seine Kollegen sind dankbar für das Leben, das sie führen dürfen. Doch nur, weil jemand viel Geld verdient, ist er kein Übermensch. Profi-Fußballer stehen unter einem enormen Stress.
Das stehen normale Angestellte oft auch…
Hans-Dieter Hermann: Das stimmt. Aber es gibt dennoch einen Unterschied. An den Stress, öffentlich zu leisten und von sogenannten Experten, von Medien oder Zuschauern sofort öffentlich bewertet und im negativen Fall bloßgestellt oder komplett in Frage gestellt zu werden, gewöhnt sich kein Mensch. Das schafft Druck. Öffentliches Leisten ist viel schwieriger als privates Leisten.
Rekordnationalspieler Lothar Matthäus hat Mertesacker für seine Aussagen wiederholt kritisiert. Was löst das in Ihnen aus?
Hans-Dieter Hermann: Eigentlich nichts. Weil ich glaube, dass dies seine Überzeugung ist. Er ist ein öffentlicher Mensch, er wird bezahlt für seine Meinung. Er darf das sagen. Dass er die Authentizität von Per in Zweifel zieht und der Eindruck der Banalisierung erweckt wird, ist mehr als bedauerlich. Dieses bisschen Verständnis und etwas Empathie, dass Menschen anders ticken als man selbst und trotzdem erfolgreich sein können, sollte man doch von jemandem erwarten können, der Spiele kommentiert, der Erfahrung hat und der vor allem schon selbst als Trainer Menschen geführt hat.
Ab wann sind Stressreaktionen wie der Brechreiz von Mertesacker Besorgnis erregend?
Hans-Dieter Hermann: Diese und andere schnell vorübergehende psychosomatische Reaktionen sind für sich allein gesehen zunächst einmal nicht Besorgnis erregend, sie sind für die Betroffenen nur extrem lästig. Ich kenne Sänger, die sich häufiger vor Auftritten übergeben, obwohl sie fast immer die gleichen Lieder singen und ich kenne Führungskräfte, denen vor jeder Rede heiß und kalt wird, übel ist oder die extrem anfangen zu zittern. Es ist also keine Seltenheit, was Per beschreibt. Um es auch einmal von einer anderen Perspektive anzusehen: Moderater Stress ermöglicht Menschen auch eine hohe Leistungsfähigkeit, wenn sie sich danach wieder erholen können. Er ist nicht per se schlecht, erst wenn Stress die Vorbereitung eines Sportlers bestimmt. Per beschreibt das ja, dass er sich überlegte, wie er es schafft, dass ihm niemand etwas anmerkt. Wenn Sie das den ganzen Tag umtreibt, wenn Sie beherrscht werden von dem Zustand und von den Ängsten entdeckt zu werden, dann ist fachliche Unterstützung geboten..
Hat sich Mertesacker Ihnen damals anvertraut?
Hans-Dieter Hermann: Nein. Er hat ja selber gesagt, dass er sich niemandem anvertraut hat. Jeder kompensiert das auf seine Weise und manche haben auch schwer damit zu kämpfen. In dem Moment, in dem der Spieler signalisiert, dass das sein Ding ist, geht man als Psychologe nicht hin und sagt: Hey, was ist los? Klar ist: Die Tür steht immer offen. Das ist eine eindeutige Botschaft an die Mannschaft, die auch Joachim Löw und Oliver Bierhoff betonen. Es ist ein Angebot.
Was hätten Sie Mertesacker geraten, wenn er sich Ihnen anvertraut hätte?
Hans-Dieter Hermann: Wir Psychologen haben eine ganze Menge leicht erlernbarer, einfacher Strategien, die die Anspannung senken können. Mit der Atmung bewusst umzugehen zum Beispiel. Oder Ablenkung zu suchen, gedanklich aus der Situation rauszugehen, damit die Gedanken nicht nur um diesen Zustand kreisen. Sonst kann die Vorstartphase sehr lang und kräftezehrend sein..
Haben Sie Mertesackers Worte berührt in dem Sinne, dass sie sich gefragt haben, warum er sich Ihnen nicht anvertraut hat?
Hans-Dieter Hermann: Nein. Als Sportpsychologe wollte und will ich niemanden drängen. Per und ich haben ein gutes Verhältnis. Selbst wenn ich das definitiv gewusst hätte, Per aber gesagt hätte, dass er damit in Ruhe gelassen werden möchte, hätte ich ihm zwar Unterstützung angeboten, aber seine Entscheidung natürlich respektiert.
Ist die psychologische Arbeit im Profifußball heute wichtiger als noch vor 20 Jahren zum Beispiel?
Hans-Dieter Hermann: Besonders wichtig ist sie heute, weil sich die Rahmenbedingungen verändert haben. Spieler können in der Öffentlichkeit richtig untergehen, denken Sie an Shitstorms. Jeder Satz, den ein Spieler scheinbar falsch formuliert, kann eine unglaubliche Dynamik entwickeln, die man ihn nicht mehr einfangen kann. Das kann einem so vor die Füße fallen, dass man selbst und die Familie kaum noch zum Bäcker gehen mag, weil man schief angeschaut wird. Allerdings ist es heute für mich als Teampsychologen auch einfacher geworden. Weil es eine andere Generation ist. Die Spieler wissen, dass ich sie nicht therapieren will, sondern dass ich ihnen helfen möchte, ihre psychische Gesundheit zu unterstützen und noch bessere Leistungen zu bringen. Wenn jemand ein subjektiv empfundenes Defizit hat, weil er mit dem Stress nicht klarkommt, kann er sich Optimierung holen und zwar vertraulich.
Welche Maßnahmen müssten ergriffen werden, um Spieler besser zu schützen?
Hans-Dieter Hermann: Es gibt eine ganze Menge, was getan werden kann, vor allem individuell. Ein Kernpunkt ist zum Beispiel das Vorhandensein einer zweiten Identität. Wenn man nur die öffentliche Person ist, nur der bekannte Fußballspieler, dann ist man in Drucksituationen und nach negativen Ergebnissen sozusagen existenziell bedroht. Wenn man dir deine Minuten vorrechnet, in denen du nicht getroffen hast oder in denen du auf der Bank gesessen hast. Es braucht eine zweite Identität: die Rolle als Familienvater oder guter Freund zum Beispiel. Per Mertesacker trifft sich gern mit seinen Schulfreunden, mit Leuten, mit denen sich das Zusammensein nicht verändert hat. Das sind Rückzugsräume, die sich die Spieler schaffen sollten. Eine Gegenwelt zum Profifußball. Miroslav Klose sagte immer: Ich gehe angeln, vielleicht nehme ich ein paar Freunde mit und dann sprechen wir stundenlang nicht. Das war neben der Familie seine Gegenwelt zum Profidasein. Zu Lothar Matthäus' Zeiten konnten sich Spieler immer zurückziehen, heute gibt es kaum noch Orte des Rückzugs. Das macht den Stress aus und in Verbindung mit der hohen körperlichen Beanspruchung ist das auf Dauer nur schwer zu packen. Da müssen Sie wahnsinnig stabil sein.
Der Fußball-Betrieb kommt uns manchmal rastlos vor…
Hans-Dieter Hermann: Die Schwierigkeit besteht in der gesamten Leistungsgesellschaft darin, dass messbarer Erfolg meist nur stattfinden kann, wenn Vorleistungen übertroffen werden. Sie müssen immer ein Stück besser werden, um weiter oben zu bleiben. Gleichbleibende Leistung bedeutet im Verdrängungswettbewerb immer zurückzufallen, da sich andere weiterentwickeln. Diese Prämisse des immer mehr und trotzdem immer besser gibt es ja auch in vielen Bereichen des Wirtschaftslebens, manchmal sogar unter schlechter werdenden Bedingungen, weil Leute entlassen und Stellen abgebaut werden. Das ist wirklich heftig.
Deutschland ist Weltmeister. Wie schafft man es, den Antrieb hoch genug zu halten, um den Titel zu verteidigen?
Hans-Dieter Hermann: Wenn Sie echte Freude an dem haben, was Sie tun und gleichzeitig ambitionierte Ziele haben, ist immer genügend Antrieb da. Und bei der Nationalmannschaft haben wir zusätzlich auch noch das Glück, ein großes Reservoir an motivierten Spitzenleistern zu haben. Aber jeder weiß, dass sein Status nicht in Stein gemeißelt ist. Das bedeutet, dass sich das System selbst pusht. Jeder weiß bei uns, dass er dranbleiben muss, obwohl man ihm vielleicht aus psychologischer Sicht manchmal etwas mehr Pausen wünschen würde. Aber das sieht das System des Leistungssports nicht vor. Das ist ein Widerspruch, dem ich mich als Psychologe natürlich immer stellen muss.
Mertesacker wird nach seiner Karriere im Sommer das Nachwuchsleistungszentrum des FC Arsenal leiten. Matthäus hält ihn dafür nicht geeignet…
Hans-Dieter Hermann: Das sehe ich völlig anders. Dadurch, dass Per weiß, wie jemand leiden kann, obwohl man es von außen kaum sieht, kann er die jungen Spieler unterstützen. Er kann sagen: Ihr werdet noch besser, wenn ihr mit Druck gut umgehen könnt. Stellt euch! Gerade deshalb wird er ein ganz wunderbarer Leiter des Nachwuchsleistungszentrums sein. Er kann von innen das System, das er liebt, verändern. Ohne, dass die Leistungsprämisse deshalb auf der Strecke bleibt. Ich hoffe, dass Arsenal weiß, was man an ihm hat.
Nicht alle Vereine in der Bundesliga arbeiten heute mit einem Psychologen. Würden Sie das ändern?
Hans-Dieter Hermann: Für den Profibereich nicht zwingend. Wenn es nicht die richtige Kultur dafür in einem Verein gibt, hat jeder Psychologe, der dort arbeiten soll, verloren. Die Atmosphäre muss passen. Die sportliche Leitung muss das Mentale ebenso wie das Körperliche als bedeutsam für Gesundheit und Leistung einstufen, intern entsprechend kommunizieren und Möglichkeiten schaffen. Nur dann werden es die Spieler auch nutzen.
Haben die Aussagen von Mertesacker dazu geführt, dass innerhalb der Nationalmannschaft mehr über das Thema gesprochen wird?
Hans-Dieter Hermann: Nein, nicht im Sinne von: Endlich haben wir das Thema mal auf dem Tisch. Richtig ist, dass es in der Nationalmannschaft diskutiert wurde, zumal Per ja noch mit etlichen unserer aktuellen Spieler auf dem Platz stand.
Sie arbeiten ja nicht nur mit Spielern, sondern beraten auch Löw. Welchen Aspekt heben Sie vor der WM besonders hervor?
Hans-Dieter Hermann: Eine der großen Stärken von Joachim Löw ist sein Umgang mit Drucksituationen. Er kann, wenn er Druck hat, so als Führungskraft agieren, dass er den Druck nicht an seine Mitarbeiter oder die Spieler weitergibt. Das ist nicht selbstverständlich. Ich kenne so viele Führungskräfte, bei denen es immer die anderen abkriegen, wenn es eng wird. Bei Joachim Löw ist das anders. Es gelingt ihm auch in den Hochleistungsphasen einer WM, in denen er unter maximalem Druck steht, im Gleichgewicht zu bleiben. Dadurch ist er klar bei Entscheidungen und auch die Spieler erleben ihn als starke Führungskraft. Das ist enorm wichtig in zugespitzten sportlichen Situationen.
Mittlerweile ist er ja fast demonstrativ gelassen…
Hans-Dieter Hermann: Er arbeitet stark mit Vertrauen. Die Spieler können sich auf ihn verlassen. Damit ist er erfolgreich geworden. Er kann sich jetzt sicher sein, dass sein Stil der richtige ist. Und das gibt ihm eine gewisse Gelassenheit, wenn es bei einer WM schwierig wird. Ich denke wirklich oft: Jogi, Chapeau!