Essen. Zwei Fußballwelten prallen oft aufeinander - normale Zuschauer auf der einen, Ultras auf der anderen Seite. Eine Analyse von Pit Gottschalk.
Ein Riss geht durch die deutsche Fanszene. Man konnte es am Freitagabend in Hannover sehen. Der Aufsteiger gewinnt 2:0 gegen den Hamburger SV und ist erstmals seit Jahrzehnten Tabellenführer in der Fußball-Bundesliga: Aber als die Mannschaft zum eigenen Anhang geht, wenden sich vornehmlich Ultras ab.
„Was ich echt doof finde, ist, dass die Ultras das Stadion verlassen, bevor die Jungs vor der Fankurve sind", schimpfte Trainer André Breitenreiter. "Das ist ein klares Signal GEGEN die Mannschaft.“ Noch während des Spiels hatten andere 96-Fans lautstark zum Ausdruck gebracht, was sie von der selbstgefälligen Ultra-Szene halten: "Ultras raus!", donnerte es von den Rängen.
Immer wieder prallen auf meinem Twitter-Account diese zwei Fußballwelten aufeinander. Sobald ich auch nur ansatzweise Ultras im Allgemeinen und Pyro im Besonderen kritisiere, bricht ein Shitstorm über mich herein. Die harmlosen Kommentare geben zu bedenken, dass nicht alle Ultras gleich sind; die fiesen werfen mir Ahnungslosigkeit vor. Einig sind sich alle im Plädoyer: Verpiss dich!
HSV-Ultras zündelten in Hannover mit Pyrotechnik
Am Freitagabend wieder. HSV-Ultras zündelten beim Auswärtsspiel in Hannover mit Pyrotechnik; Ultras der Gastgeber brüllten ihren Frust gegen Klubchef Martin Kind heraus, der auch formal die Mehrheit am Verein anstrebt. Als Zuschauer mit "Ultras raus!" konterten und ich meine Sympathie für die Gegenbewegung twitterte, ging das Spielchen mit den Ultras wieder los. Heute muss ich mich wechselweise als "Lappen" und "miserabler Journalist" beleidigen lassen. Berufsalltag.
Die Botschaft jedesmal: Hüter der Fußballkultur seien nur die, die im Stadion sehr laut sind, Choreographien inszenieren und Bengalisches Feuer anzünden. Alle anderen: Trottel, die nicht kapieren, dass es ohne Ultras ja keine Stimmung in den Stadien gäbe. Ich meine und sage seit langem: Hier liegt bei den Ultra-Fans ein grundsätzliches Missverständnis vor. Darum hier eine Klarstellung.
Erstens: Die allermeisten Leute gehen ins Stadion, um Fußball zu sehen. Es geht ihnen um die kleine elitäre Gruppe von Männern, die auf dem Rasen rennen, und nicht um jene Minderheit auf der Tribüne, die um Aufmerksamkeit bettelt. Zweitens: Die Stimmung entwickelt sich aus dem Spiel heraus. Begeisterung, Missmut, Aufregung, Wut, Trauer, Freude - jede Gefühlslage wird von dem ausgelöst, was auf dem Rasen passiert, und nicht, weil ein vom Capo inszenierter Gesang wie Einheitsbrei über die Sitzreihen wabert. Drittens: Stimmung in den Stadien gab es schon, als die Ultra-Gruppierungen noch nicht existierten und deren Vertreter noch in die Windeln machten.
Im alten Aachener Tivoli heizten wir auf dem Würselener Wall dem Gegner und manchmal der eigenen Mannschaft so ein, dass wir keinen Vorsänger und keine Pyrotechnik brauchten, um das Spiel zu einem Erlebnis zu machen. Unsere Stimmung hing von dem ab, was die Männer auf dem Rasen taten. Das ist ein wesentlicher Unterschied zu heute. Ultras - ja, nicht alle! - nehmen billigend in Kauf, dass sie mit Pyro das Leben anderer Menschen gefährden und ihrem Verein schaden. Das ist keine Fußballkultur.
Ja, richtig gelesen: vereinsschädigend. Die Geldstrafen folgen prompt, die Reputation leidet, und nicht selten wird die Konzentration der eigenen Spieler gestört (ich erinnere mich an die eine Heimniederlage des HSV gegen Darmstadt 98 - danach wäre der Hamburger SV beinahe abgestiegen). Ich frage hier bewusst in die Runde: Tun echte Fans so etwas? Die Ultras sollten endlich ehrlich sein: Der Verein und dessen Erfolg sind ihnen nicht so wichtig, wie sie behaupten. Hauptsache, sie finden Beachtung.
Mir geht die Verharmlosung ziemlich auf den Keks. Unter der Woche inszenierten die Kölner einen Fanmarsch durch die City von London. Wir saßen in der Redaktion, sahen die Videos und waren begeistert. Anders als die Idioten von Dynamo Dresden, die vorige Saison ihren Fanmarsch in Karlsruhe in einen Militärmarsch verwandelt hatten, zeigten die Kölner ihre Freude darüber, dass sie erstmals seit 25 Jahren wieder im Europapokal spielten. Alles blieb friedlich. Sogar ein Star-Regisseur hielt den Nachmittag mit seiner Kamera von seinem Balkon aus fest. Das war Freude pur.
Am Abend eskalierte die Situation am Stadion. Zu viele der 10.000 Kölner hatten kein Ticket. Die Sicherheitsleute mussten am Eingang jene mit Tickets herausfiltern und gleichzeitig eine Vermengung mit Arsenal-Fans verhindern. Es kam zu Raufereien, Brüllattacken, Übergriffen. Anpfiff: um eine Stunde verschoben. Es drohte sogar ein Spielausfall. Die Stimmung vom Nachmittag: verflogen. Der Ruf des 1. FC Köln: kaputt. Und das wollen Fußballfans sein? Jetzt mal ehrlich!
Zu viele Ultras sind nicht, wie sie behaupten, der Kern der Fußballkultur, sondern eine Belastung für die Fußballkultur. Es stimmt schon: Man darf nicht alle Ultras in einen Sack stecken. Aber eine Distanzierung derer, denen der Fußball etwas bedeutet, von jenen, die den Fußball missbrauchen, erfolgt nur zögerlich.
Beim letzten Heimspiel des FC Schalke 04 vorige Saison erinnerten die Ultras mit einer Choreografie an den UEFA Cup-Sieg vor 20 Jahren. War das ein Spektakel! Die schönste Choreo, die ich jemals gesehen habe. Ein Fahnenmeer in der VELTINS-Arena, haushohe Pokale, stimmgewaltiges Publikum - sensationell. Dass auf einem Logo eine Kritik an der Uefa versteckt war ("Mafia"), hat mich begeistert. Kritiklos sollten keine Fans sein. Aber auch nicht voller Hass für jene, die ihnen gegenüber kritisch sind.