Essen. . Stefan Hell erhält Mittwoch den Nobelpreis, ein Karriere-Höhepunkt, wie es der WM-Titel für den DFB war. Ein Interview über Wissenschaft und Fußball.

Stefan Hell erhält am Mittwoch in Stockholm für die Entwicklung eines besonders hochauflösenden Mikroskops den Nobelpreis für Chemie. Der Physiker am Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie in Göttingen ist in Rumänien aufgewachsen, mit 15 Jahren nach Deutschland gekommen und hat am Carl-Bosch-Gymnasium in Ludwigshafen Abitur gemacht – wie übrigens auch Nationalspieler André Schürrle. Dem Fußball ist er seit seiner Kindheit verbunden, das Finale der Weltmeisterschaft im Sommer sah er mit seinen Söhnen.

Wie nimmt ein Nobelpreisträger solch’ ein Siegtor wahr wie das von Mario Götze im WM-Endspiel?

Stefan Hell: Das war unglaublich. Der Ball lief träge hin und her, zwischen Schürrle und noch einem anderen (Toni Kroos; Anmerkung der Red.). Und dann spurtete Schürrle plötzlich los. Er läuft da die Linie entlang, da stehen doch drei Argentinier, da hat er keine Chance. Doch der Ball kam direkt an den Argentiniern vorbei zu Götze und war dann im Netz. Ich hab’s im ersten Moment gar nicht fassen können. Das war klasse.

Welche Bedeutung messen Sie dem Erfolg der Nationalelf zu?

Hell: Ich glaube, es ist ein Zeichen dafür, dass man, wenn man sich anstrengt und etwas dafür tut, wie es die Mannschaft gemacht hat, etwas erreichen kann, in diesem Fall Weltmeister und Weltklasse zu sein.

Hat es auch für die Gesellschaft eine Auswirkung?

Hell: Ich hoffe schon. Die junge Generation sieht: Wenn man etwas mit Begeisterung tut, wenn man sich ein Ziel vor Augen nimmt und es konsequent verfolgt, kann man es tatsächlich erreichen. Es sind greifbare Dinge, nichts, das nur irgendwo in den Sternen steht.

Ist das eine Parallele zu Ihrer wissenschaftlichen Arbeit?

Hell: Durchaus. Man braucht auch für die Wissenschaft sehr viel Begeisterung. Man benötigt Talent wie im Fußball auch, aber Talent allein reicht nicht. Man muss sich anstrengen, ein Ziel vor Augen und Spaß haben an dem, was man macht. Dann kann man auch in der Wissenschaft sozusagen Weltmeister werden.

Wie lange haben Sie gebraucht, um Ihre „Weltmeisterschaft“ zu erringen? Wie lange haben Sie an dem Projekt gearbeitet?

Hell: Sehr lange. Das war teilweise auch eine lange Durststrecke. Die ganze Entwicklung, für die ich letztlich ausgezeichnet wurde, hat sich über 20 Jahre hingezogen.

Wie sind Sie mit Ihren Erfolgserlebnissen umgegangen? Ist es ähnlich, wie wenn man ein Tor schießt?

Hell: Ja sicher. Erfolge sind, wenn man merkt, dass es klappt, was man sich vorgestellt hat. Es ist wie eine Weltmeisterschaft: Es waren viele Etappensiege dabei und auch viele schöne Spiele, also viele Experimente sind gut gelaufen, es hat sich gut entwickelt, und man hat gesehen, dass man am Ende den Durchbruch mit all seinen Konsequenzen schaffen würde.

Wie haben Sie die Nachricht aufgenommen, dass Sie den Nobelpreis erhalten?

Hell: Ich war schon überrascht. Ich wusste zwar, dass es eine wichtige Sache ist, die vielleicht für den Nobelpreis in Frage kommt. Ähnlich wie die Jungs auch: Erst habe ich gar nicht kapiert, dass es passiert ist, aber dann hat sich doch sehr schnell die Freude eingestellt, Erleichterung, auch dieses „Wow“, es ist plötzlich da. Man kann es kaum fassen.

Aber sie haben nicht die Arme hochgerissen?

Hell: Nein. Das habe ich nicht getan, weil es ja auch nicht ganz so punktuell ist. Aber ich muss schon sagen: so ein Anruf, der verändert schon was.

Warum wird Ihr Erfolg in Deutschland nicht so gefeiert wie eine Weltmeisterschaft?

Hell: Von der Wissenschaft glaubt die Öffentlichkeit oft, sie sei nicht leicht nachzuvollziehen. Fußball ist relativ einfach, in der Wissenschaft muss man mehr verstehen. In meinem Fall ist es allerdings einfach zu verstehen, was entdeckt wurde.

Was ist es konkret?

Hell: Ich habe herausgefunden, dass man mit einem Lichtmikroskop viel schärfere Bilder machen kann als vorher. Das ist wichtig, um zu sehen, was passiert, wenn eine Zelle krank wird. Bis vor kurzem waren nur Schnappschüsse möglich, jetzt lassen sich ganze Sequenzen aufzeichnen. Ich gebe Ihnen mal eine komplette Analogie zum Fußball. Sie wissen nicht, wie der funktioniert, weil sie aus einem Land kommen, wo es keinen Fußball gibt. Sie sehen einfach nur Fotos. Der Torwart reckt die Arme hoch, mal tut der eine das, der andere das. Sie verstehen nicht, was läuft. Genauso ist es bei der Mikroskopie, wenn man nur Schnappschüsse macht. Was andere Kollegen und ich gefunden haben, ist, dass man jetzt ganze Spielsequenzen aufnehmen kann und in der Zelle sieht, was dort abläuft. Man kann in regelrechten Abläufen erkennen, wie Krankheiten zustande kommen.

Was ist wichtiger für Deutschland: der WM-Titel oder Ihr wissenschaftlicher Erfolg?

Hell: Beides ist ein Grund zur Freude. Die Weltmeisterschaft erfreut die Leute, was wichtig ist für die Lebensqualität. Aber auch der Durchbruch in der Mikroskopie ist ein Grund zur Freude, weniger der Nobelpreis an sich, der ist ja nur Zeichen. Er wird Auswirkungen auf unser Gesundheitswesen haben. Es wird noch Jahre dauern, doch am Ende werden wir Krankheiten besser bekämpfen können.

Wünschen Sie sich mehr Aufmerksamkeit für die Wissenschaft?

Hell: Als Wissenschaftler ist man froh, dass man in Ruhe Problemen nachgehen kann. Aber schließlich finanziert der Steuerzahler die Forschung und hat ein gutes Recht zu verstehen und zu wissen, was Forscher machen. Wenn ein Durchbruch passiert, wie er uns jetzt gelungen ist, hat der Steuerzahler das mitfinanziert und hat einen echten Anteil an diesem Durchbruch. Dann sollte er sich freuen – genauso wie über einen Weltmeistertitel.