Essen. Kein Platz mehr für den klassischen Zehner? Athletik vor Ästhetik? Da muss man doch wehmütig werden. Eine Kolumne.
"Früher haben wir noch mit dem Ball gespielt, heute spielt man gegen den Ball.“ Da ist was dran, schon allein, weil es Jupp Heynckes gesagt hat, ein honoriger Mann, der nicht nur wegen seiner drei Bayern-Titel in einer Saison über den Dingen steht. Gegen den Ball, verschieben, anlaufen, pressen, flache Vier, zwei Sechser, falsche Neun – es hat sich ja so vieles verändert im Fußball.
Der gute alte Vorstopper, der vom Trainer den Auftrag bekam, mit seinem Gegenspieler mitzugehen, „auch wenn der aufs Klo geht“ – ein Steinzeitfußballer. Bei den Profis sind ja selbst kantige Mittelstürmer, die ständig das Tor treffen, nicht mehr so recht gefragt, Erling Haaland von Borussia Dortmund ist eher eine Ausnahme von der Regel. Aber dass mittlerweile auch der Zehner kaum noch eine Rolle spielt, der Regisseur, der Strippenzieher, dass selbst brillante Ballbeweger wie die Weltmeister Mesut Özil und Mario Götze nicht mehr ins Konzept passen – das ruft schon eine gewisse Wehmut hervor.
Platini wünschte sich gestenreich: Bringt mir doch bitte mal den Ball
Im modernen Fußball wird deren Kunst eingeschränkt, weil auch sie im Mannschaftsverbund zur Defensivarbeit verpflichtet werden – und die beginnt schon vorne, mit Tempo und Biss. Früher gab es selbst auf höchster Ebene Genies, die manchmal keine Lust aufs Laufen hatten – und trotzdem oder gerade deshalb glänzen konnten. In der Erinnerung war Günter Netzer, der Mann mit der wallenden Mähne, der mit langen Schritten eine Schneise durchs Mittelfeld schnitt. Die Wahrheit aber ist: Der Gladbacher hatte einen wassertragenden Helfer, Hacki Wimmer fraß für Günter Netzer Kilometer.
Der Taktgeber konzentrierte sich meistens aufs Wesentliche, seine 40-Meter-Pässe genau in den Lauf des Außenstürmers waren ein Freudenfest für die Pupillen. Und dem späteren Skandal-Funktionär Michel Platini gehorchte die gesamte französische Nationalmannschaft, wenn er den Mitspielern gestenreich seinen Wunsch verdeutlichte: Da vorne ist der Ball, bringt ihn doch bitte mal her, damit ich ihn zauberhaft weiterverarbeiten kann.
Die Kreisliga ist das letzte Terrain für diese selten gewordene Spezies
Sie waren oft auch Originale, diese selbstbewussten Typen, denen der Ball gehorchte, weil er spürte, dass sie ihn gut behandelten. Zu schade, dass sie schon jetzt mehr auf YouTube als im Stadion zu bewundern sind.
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Auch der höherklassige Amateurfußball wird längst von Taktik bestimmt, und wenn einer aus dem vorgegebenen Gefüge ausbricht, wird er garantiert nicht auch noch bevorzugt behandelt: Wer nicht laufen will, kann gehen. Kreisliga und Altherrenfußball – das ist das letzte Terrain, auf dem diese selten gewordene Spezies noch anzutreffen ist. Auf dem Weg nach vorne rennst du auf Höhe des Mittelkreises am Zehner vorbei, und wenn du mit heraushängender Zunge zurückspurtest, dann steht er da immer noch und grüßt mit freundlichem Lächeln. Du fluchst, aber du weißt auch: Er kann nun mal auf einem Quadratmeter drei Gegenspielern Schwindelanfälle bescheren, und er stoppt den Ball zur Not auch mit dem Hinterteil, bevor er ihn wohltemperiert auf die Reise schickt.
Gegen den Ball. Athletik vor Ästhetik. Man muss nicht alles schön finden, was als modern gilt.