Dortmund. Die Rückennummer 10 lässt das Herz noch immer schneller pochen. Doch die Position wird unwichtiger. Günter Netzer erklärt seine ehemalige Rolle.
Trikotnummern erzählen Geschichten, so will es die Tradition. Die 1 trägt der Torhüter. Die 4 der Beißer, dessen Trikot nach der Partie eine Extrarunde in der Waschmaschine vertragen kann. Die 7 der Schnelle, der schon mal den Ball vergisst. Die 9 der Torjäger. Und die 10 der Spielmacher, der Begnadete. Bei keiner Zahl pocht das Herz so schnell.
Schon die Kleinsten balgen sich um diese Nummer. Wer sie in der Kreisliga zum ersten Mal tragen darf, muss Getränke spendieren. Aber auch unter Profis gilt sie als Auszeichnung.
„Es ist eine besondere Nummer. Der Zehner war früher der herausragende Spieler seiner Mannschaft, eine wichtige Hilfe für den Trainer“, erklärt Günter Netzer, einer der herausragenden Spielmacher der deutschen Fußball-Historie, im Gespräch mit dieser Redaktion. In den 60er- und 70er-Jahren verstand er es bei Borussia Mönchengladbach, bei Real Madrid und in der Nationalmannschaft, einem Spiel mit seinen Pässen eine andere Wendung zu geben. „Aber der Fußball ist jetzt ein anderer“, sagt der heute 75-Jährige. „Er ist nicht mehr auf eine einzige Position abgestimmt.“
Özil und Götze bekommen Entwicklung zu spüren
Denn obwohl das Trikot mit der Nummer 10 die Herzen noch immer schneller schlagen lässt, verliert die klassische Spielmacher-Position hinter den Stürmern an Bedeutung, bei vielen Spitzenvereinen existiert sie in dieser Form gar nicht mehr. Eine Entwicklung, die in diesem Sommer zwei Weltmeister von 2014 schmerzhaft zu spüren bekommen. Von Mesut Özil, Nummer 10 beim FC Arsenal, gingen zuletzt Bilder um die Welt, wie er sich während der 90 Minuten auf der Tribüne mit einem Schirm vor der Sonne schützte, anstatt auf dem Platz zu stehen. Mario Götze musste sein Trikot mit der Nummer 10 bei Borussia Dortmund im Spind liegen lassen, sein Vertrag wurde nicht verlängert. Ein neuer Klub? Noch nicht gefunden.
Nun passen Einzelschicksale nicht immer in übergeordnete Schablonen, Özil und Götze tragen auch ihr individuelles Päckchen. Beide aber zählen zu den feinsten Fußballern der jüngsten Weltmeister-Generation. Beide können Mitspieler glänzen lassen, beide können eine Partie wie früher Netzer mit einem einzigen Pass entscheiden. Beide benötigen allerdings ihre Freiheiten, beiden fehlt die Härte beim Pressing.
Die aber wird immer wichtiger. Spieler bräuchten jetzt Power, Power, Power, erklärt BVB-Trainer Lucien Favre schon mal hinter verschlossenen Türen.
Goretzka hat sich Muskeln aufgebaut wie ein Türsteher
Längst haben sich die Taktgeber weiter nach hinten geschoben. Auf die 6. Oder die 8. Den modernen Mittelfeldspieler verkörpert in Deutschland derzeit keiner so sehr wie Leon Goretzka. Der sich Muskeln aufgebaut hat wie ein Türsteher, über Tempo verfügt wie ein Sprinter – und trotzdem den Ball streicheln kann wie ein Violinist sein Instrument. Im Grunde könnte Goretzka aufgrund seiner Fähigkeiten auch die 4, die 7, die 10 oder sogar die 9 tragen. Ähnliches traut der BVB Jude Bellingham zu, weswegen der Klub für den erst 17-Jährigen 24 Millionen Euro an Birmingham City zahlt.
Günter Netzer hingegen ruhte sich ganz bewusst aus, wenn seine Elf das eigene Tor verteidigte. Faul sei er nicht gewesen, sondern clever, erklärt er. „Ich gebe ihnen ein Beispiel“, erzählt Netzer. „Wir haben mit Gladbach einmal gegen den 1. FC Köln gespielt, die Hans Sturm hatten, ein Laufwunder. Ich habe ihn rennen lassen, wir führten 4:1 zur Halbzeit.“ Trotzdem habe ihn Trainer Hennes Weisweiler in der Kabine angebrüllt, er solle Sturm decken. „Das habe ich dann gemacht, mit dem Resultat, dass die Partie 4:4 endete. Ich bin ausgefallen.“ Eine Lehre.
Netzer: „Die ganze Erwartungshaltung lastete auf mir“
Netzer konzentrierte sich fortan auf die Offensive. „Aber ich hatte eine große Verantwortung, die ganze Erwartungshaltung lastete auf mir, 80 Prozent reichten nicht“, berichtet der Taktgeber der legendären Europameister-Mannschaft von 1972. Viele Gegner versuchten nur, den begnadeten Spielmacher auszuschalten. Die Verteidiger grätschten dabei mit einer heute undenkbaren Brutalität. „Trotzdem war es eine schöne Aufgabe. Ich habe es akzeptiert, dass ich mehr abgekriegt habe“, sagt Netzer.
Der Fußball brachte viele begnadete Zehner hervor. Wolfgang Overath, Pelé, Diego Maradona, Bernd Schuster, Michel Platini, Zinedine Zidane, Johan Cruyff, viele mehr müssten aufgeführt werden. Doch gleichzeitig tüftelten Trainer an taktischen Veränderungen. „Es war ein Nachteil, dass das Offensivspiel lahmte, sobald der Spielmacher ausgeschaltet war“, räumt Netzer ein. Deswegen wurde versucht, die Verantwortung auf mehrere Schultern zu verteilen. Kein Profi kann sich mehr leisten, in der Defensive zu schlafen. Özils Arsenal und Götzes Ex-Klub BVB versuchen, ihre Gegner derzeit mit einem 3-4-3-System auszuhebeln. Ein Spielmacher wird gar nicht mehr aufgestellt. Die Außenspieler sollen dem Angriff das Besondere verleihen.
Die Nummer 10 sorgt noch immer für Flimmern
Trotzdem tragen einige große Stars weiterhin die 10. Lionel Messi. Oder Neymar. Die legendäre Rückennummer sorgt noch immer für Flimmern. Vielleicht ergeht es ihr aber wie der 5. Mit der stolzierte einst der Libero über den Rasen, Franz Beckenbauer verhalf ihr zu Weltruhm. Doch die Position ist ausgestorben, ihre Geschichten werden nur noch in Rückblenden erzählt. Und welcher Fan weiß heute auf Anhieb, wer in seinem Lieblingsklub die 5 trägt?