Essen. Vor dem 34. Spieltag: Der frühere Schiedsrichter Markus Merk spricht über Handspiel-Ärger, den Umgang mit Druck und das Schalke-Drama von 2001.
Letzter Spieltag der Bundesliga-Saison. Vorhang auf für ein furioses Finale. Ein Finale, das in Begeisterung und in Verzweiflung enden wird. Für Bayern München (gegen Eintracht Frankfurt) und für Borussia Dortmund (bei Borussia Mönchengladbach) steht alles auf dem Spiel. Und damit rücken auch die Schiedsrichter verstärkt in den Blickpunkt: Sascha Stegemann in München, Manuel Gräfe in Gladbach. Wie groß ist für sie der Druck, wenn ein falscher Pfiff über die Meisterschaft entscheiden kann? Wer könnte das besser beurteilen als Dr. Markus Merk? Der 57-jährige frühere Fifa-Schiedsrichter, der dreimal zum „Weltschiedsrichter des Jahres“ gewählt wurde, begleitet auch den letzten Spieltag der Saison als Experte beim TV-Sender Sky.
Ein Spieler von Bayern München oder von Borussia Dortmund geht in den letzten Spieltag mit der Vorfreude, alles gewinnen zu können. Für den Schiedsrichter hingegen besteht vor beiden Partien die Gefahr, nur verlieren zu können. Pfeift er gut, wird es kaum erwähnt. Aber wehe, wenn nicht…
Markus Merk: Hätte man als Schiedsrichter solche Gedanken, dürfte man gar nicht mehr pfeifen. Für mich hat es immer gezählt, Teil des Ganzen zu sein. Dass andere gefeiert werden, weiß man, wenn man sich dafür entscheidet, Schiedsrichter zu werden. Ans Verlieren denkt keiner. Man will ja die wirklich wichtigen Spiele pfeifen. Eine Ansetzung dafür ist doch auch eine Auszeichnung. Das muss der Anspruch eines jeden Sportlers sein.
Muss man sich auf einen solchen Spieltag als Schiedsrichter mental besonders vorbereiten?
Merk: Es wäre falsch, etwas Besonderes in ein solches Spiel hineinzuinterpretieren. Du musst die Gelassenheit wahren, das, was dich stark gemacht hat. Du musst doch sowieso total fokussiert in jedes Bundesligaspiel gehen. Also musst du auch so ein Spiel nehmen wie jedes andere, das ist die große Kunst dabei.
Kann der Video-Schiedsrichter dem Schiedsrichter auf dem Feld etwas von dem Druck nehmen?
Merk: Ja, weil der Schiedsrichter auf dem Spielfeld nicht mehr den entscheidenden Fehler begehen kann – zumindest nicht mehr alleine. Der Druck verteilt sich auf mehrere Schultern. Mittlerweile ist es ja so, dass wir viel mehr über den Video-Schiedsrichter reden als über den Schiedsrichter. Der wird als erste Instanz bei Medien und Fans entlastet. Dabei sollte seine Leistung eigentlich im Vordergrund stehen.
Sie waren beim dramatischsten Saisonfinale, das die Bundesliga je erlebt hat, im Einsatz: Als Schalke sich 2001 vier Minuten lang als Deutscher Meister fühlte, Sie aber in Hamburg noch einen Freistoß für Bayern München pfiffen, mit dem die Bayern dann doch noch den Titel holten. Hätten Sie sich damals einen Video-Schiedsrichter als Unterstützung gewünscht?
Merk: Ich habe ja schon sehr früh über Hilfsmittel im Fußball nachgedacht, andere Sportarten waren uns da voraus. Zu meiner Zeit waren noch viele Schiedsrichter dagegen, das hat sich dann gewandelt. In dem Spiel damals hätten wir mit einem Video-Schiedsrichter die Dramatik wohl gar nicht erlebt. Denn die Bayern hatten schon vorher ein Tor geschossen, der Assistent zeigte mir Abseits an, was sich dann hinterher als falsch herausstellte.
Wie schafft man es bloß, die Folgen einer solchen schwerwiegenden Entscheidung zu ertragen? Bis heute ist nicht bekannt, dass der Schalker Fan-Club-Verband eine Ehrenmitgliedschaft an Sie herantragen möchte – der Pfiff von damals wird Ihnen immer noch übel genommen.
Merk: Fakt ist: Ich bin immer aufs Spielfeld gegangen, um zu entscheiden. Nie, um nicht zu entscheiden. Heute hat man das Gefühl, dass manche Schiedsrichter denken: Ich warte mal lieber ab, was die in Köln dazu sagen. Für mich hat es auch nie eine Rolle gespielt, ob eine Entscheidung am ersten oder am 34. Spieltag oder in der ersten oder der 94. Minute gefällt werden muss. Ich muss meiner Wahrnehmung gerecht werden, auch wenn es für den einen oder anderen bitter ist. Es ist doch klar, dass auch mich das mitgenommen hat, als ich Stunden später Tausende Schalke-Fans weinen sah. Dazu liebe ich meinen Sport doch viel zu sehr. Glauben Sie mir: Ich bin nie auf den Platz gegangen, um Menschen wegen meiner Entscheidungen leiden zu sehen. Aber ich würde die Entscheidung von damals heute wieder so fällen. Freistoß ja oder nein – in der Szene gab es da für mich gar keine Grauzone.
Ärgert es Sie, wie mittlerweile die Handspielregel ausgelegt wird, und dass dies zu so viel Verwirrung und Verärgerung führt?
Merk: Es ist eine große Unsicherheit eingetreten, und das ohne Not. Es ist nicht zu erklären, warum man die bestehende Regel verändert hat. Probleme mit dem Handspiel gab es ja immer, aber nicht in einer solchen Dimension. Entscheidend muss doch die Fahrlässigkeit sein – also wenn jemand aktiv mit der Hand zum Ball geht.
Dreimal "Weltschiedsrichter des Jahres"
Markus Merk (57) aus Kaiserslautern wurde 1988 Bundesliga-Schiedsrichter. In 20 Jahren brachte er es auf 339 Bundesliga-Spiele. Der Fifa-Schiedsrichter wurde dreimal zum „Weltschiedsrichter des Jahres“ gewählt. Seit Jahren arbeitet er als Experte beim TV-Sender Sky.
Sky überträgt heute alle Spiele – live und in der Konferenz.
Niko Kovac und Lucien Favre, die Trainer der beiden Titelkandidaten, haben empört die Frage gestellt, ob sich die Spieler die Arme abschneiden sollten, um einen Elfmeterpfiff zu verhindern.
Merk: Ich möchte auch keine Spieler sehen, die beim Verteidigen die Hände auf den Rücken legen. Wir müssen die Natürlichkeit erhalten. Wenn wir aus jeder Berührung mit der Hand ein strafwürdiges Handspiel machen, ist das grausam. Damit machen wir den Fußball steril. Supertechniker können es schaffen, den Ball exakt an die Hand zu lupfen.
Ursprünglich sollte der Videobeweis für mehr Klarheit und mehr Gerechtigkeit sorgen.
Merk: Man muss dazu Vorgaben haben, die auch einheitlich umgesetzt werden. Das aber war zuletzt beim Handspiel zu häufig nicht der Fall. In dem Fall macht der Videobeweis den Fußball nicht gerechter.
Seit Jahren beurteilen Sie als Sky-Experte Schiedsrichter, Sie zeigen dabei eine klare Kante. Fällt das schwer, wenn man weiß, dass man damit einen Kollegen auch mal bloßstellt?
Merk: Es macht keinen Spaß, wenn man Entscheidungen als falsch bewerten muss, lieber ist es mir, richtige Entscheidungen zu kommentieren. Aber ich habe eine Verpflichtung gegenüber dem Fußball. Die Person wird von mir immer geschützt, aber in der Sache muss ich tatsächlich eine klare Linie zeigen.
Können Sie verstehen, dass ehemalige Befürworter des Videobeweises mittlerweile dafür plädieren, ihn wieder abzuschaffen?
Merk: Ja, natürlich. Anfangs gab es eine positive Stimmung, die letzten Umfragen aber waren vernichtend. Wir sollten uns auch fragen, ob Schiedsrichter die einzigen Video-Assistenten sein können. Ich wäre ja für eine Challenge. Den Trainern sollte in Einzelfällen das Recht zur Überprüfung eingeräumt werden. Die Bremer beispielsweise hätten dann im Pokal-Halbfinale gegen Bayern die Elfmeterszene noch einmal anschauen lassen. Aber die Fifa ist dagegen. Klar ist aber: Wir sind im 21. Jahrhundert, die Technik wird in jedem Fall bleiben. Wir müssen zusehen, dass wir sie immer weiter verbessern. Und wir sollten wissen: Die beste Technik ist nur so gut wie die Menschen, die sie bedienen.