Essen/Frankfurt. DFL-Geschäftsführer Christian Seifert nimmt Kritikern in diesem Interview den Wind aus den Segeln: Durch Video-Assistenten gebe es mehr Fußball.

Das Thema Video-Assistent verwirrt Klubs, Fans und Trainer komplett. Alle treibt die Frage um: Bleibt der umstrittene Videobeweis in der Fußball-Bundesliga - oder nicht? Erstmals nimmt Christian Seifert Stellung, der Geschäftsführer der Deutschen Fußball-Liga (DFL). Im Exklusiv-Interview liest der Bundesliga-Chef den Klubs die Leviten. Und hat den Beweis: Durch den Videobeweis bekommt der Fan mehr Fußball zu sehen.

Herr Seifert, wie oft haben Sie sich diese Saison schon über Video-Assistenten geärgert?

Christian Seifert: Es ist das Schicksal, wenn man für die DFL arbeitet, dass man ganz selten unbelastet Bundesliga-Fußball schaut. Zumal ich persönlich überzeugt bin: Der Video-Assistent ist eine gute Idee und die richtige Innovation für die Bundesliga. Der Fußball wird dadurch nicht zu 100 Prozent gerecht — aber gerechter als vorher.

Hat der Video-Assistent eine Zukunft in der Bundesliga - bleibt er?

Seifert: Aus meiner Sicht ja.

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Können Sie noch unterscheiden, ob einer Schiedsrichter-Entscheidung „ein klarer Fehler“ vorausgegangen ist oder nicht?

Seifert: Nein, kann ich nicht. Die Grenzen zwischen klarer und unklarer Fehlentscheidung sind in den vergangenen Wochen verschwommen. Das führte überall zu einer Verunsicherung. Vom Video-Assistenten in Köln bis zum Schiedsrichter auf dem Rasen, von den Klubs und Trainern bis zu den Spielern und Zuschauern. Es war überfällig, dass diese Woche ein Machtwort gesprochen wurde. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass Vertreter der Liga nicht unmaßgeblich zur Verwirrung beigetragen haben.

Warum das?

Seifert: Mal war ein objektiv strittiger Elfmeter eine klare Fehlentscheidung, mal angeblich eindeutig nicht. Je nach Betroffenheit. Und jedesmal wurde der Video-Assistent kritisiert. Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, inne zu halten und vieles zurück auf den Anfang zu stellen. Die ursprüngliche Idee des Video-Assistenten war ja, glasklare Fehler zu korrigieren. Fehler wie das Handtor von Thierry Henry damals in der WM-Qualifikation. Oder Fehler wie die Phantomtore von Thomas Helmer und Stefan Kießling. Dahin müssen wir zurück. Wir sehen ja den Erfolg: Zum Beispiel: Die Aufhebung der zwei wirklich klaren Abseits-Treffer wie zuletzt beim Hertha-Spiel gegen Wolfsburg.

Wie will man die öffentliche Diskussion verhindern?

Seifert: Dass es Graubereiche bei der Bewertung von Szenen geben würde, war allen Beteiligten klar. Es ist notwendig, dass wir die Grenzen für eine Fehlerkorrektur klar definieren. Und dass es ein Verantwortungsbewusstsein in der Liga gibt, wie man darüber spricht.

Sie meinen zum Beispiel den Mönchengladbacher Trainer Dieter Hecking, der dem Videobeweis das Ende in der Winterpause prophezeite?

Seifert: Nein. Seine Motivation war eine andere. Er sah, wie eine gute Idee vor die Wand gefahren wird. Ich habe seine Bemerkung als Weckruf verstanden, eine sinnvolle Innovation nicht kaputtzureden.

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Das passiert zwangsläufig, wenn der Videobeweis weiterhin das Spiel zerstückelt.

Seifert: Wir sind in einer Testphase. Das wird zu wenig betont. Der Video-Assistent bekommt innerhalb von 15 bis 20Sekunden alle Szenen aus allen Kamerawinkeln zu sehen und kann sofort helfen, damit die Zahl der krassen Fehlentscheidungen reduziert wird.

Um den Preis, dass Spiele um drei Minuten unterbrochen werden?

Seifert: Aber das ist doch die Ausnahme. Wir schauen uns Spieltag für Spieltag alles anhand von Zahlen an. Im Schnitt wird das Spiel für 1 Minute und 2 Sekunden unterbrochen. Wenn es um die Existenz eines Vereins geht, muss man diese Minute investieren. Die Netto-Spielzeit hat außerdem zugenommen: Wir liegen jetzt bei 56,37 Minuten — das ist knapp eine Minute mehr als vorher. Man kann sogar sagen: Durch den Video-Assistenten bekommen wir mehr Fußball. Es gibt deutlich weniger Spielertrauben, deutlich weniger Diskussionen am Spielfeldrand. Insgesamt gab es in den vergangenen 99 Spielen 33 korrigierte Entscheidungen. Dies ist ein Eingriff in jedem dritten Spiel, der zu einer Korrektur geführt hat. Das kommt in der Diskussion bisher zu kurz. Leider wurde aber bislang zu oft eingegriffen, wenn kein glasklarer Fehler vorlag.

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Dann nochmals die Frage: Wo ziehen Sie die Grenze?

Seifert: Ich meine: Wenn bei einer Elfmetersituation fünf von sechs Betrachtern einig sind, dass der Pfiff ein Fehler war, liegt wohl ein klarer Fehler vor. Wenn drei Betrachter sagen, das war einer, und die drei anderen sagen das Gegenteil, kann es sich nicht um eine klare Situation handeln.

Das Urteil muss dann stellvertretend der Video-Assistent fällen?

Seifert: Keiner will den Video-Assistenten als Oberschiedsrichter etablieren. Das wäre schädlich fürs Spiel und hätte keine Akzeptanz bei den Klubs und bei den Schiedsrichtern. Diese Akzeptanz ist aber nötig. Jeder im deutschen Fußball hat ein Interesse an einer gerechten Spielleitung. Dazu braucht es klare Hierarchien. Ein Supervisor hat zum Beispiel bei einer Entscheidung nicht mitzureden.

Hat Hellmut Krug als Supervisor beim Schalke-Spiel gegen Wolfsburg Einfluss auf den Video-Assistenten Marco Fritz genommen?

Seifert: Manchmal reicht schon das Gefühl, dass mir derjenige über die Schulter schaut, der über meine Leistung als Schiedsrichter mitentscheidet und damit über die Zahl meiner Einsätze in der Bundesliga und folglich über meine Karriere und mein Geld. Man braucht kein Psychologe zu sein, um festzustellen: Diese Situation darf erst gar nicht entstehen.

Wurde Krug deshalb beim DFB als Video-Chef abgesetzt?

Seifert: Mein Eindruck ist: Die Atmosphäre war insgesamt vergiftet. Uns hat die Situation gezeigt, dass stabile Strukturen für die Schiedsrichter fehlen. Dass nicht alle an einem Strang ziehen.

Fordert die DFL deswegen eine eigenständige Schiedsrichter-Organisation?

Seifert: Wir brauchen Transparenz und klare Verantwortlichkeiten. England macht uns vor, wie es gehen kann: Es gibt eine eigene Schiedsrichter-Organisation, an der Verband und Liga beteiligt sind, wobei der Verband die Mehrheit innehält. Dort gibt es weniger Proporzdenken, sondern eine eigenständige Geschäftsführung mit Aufsichtsrat

Und das soll in Deutschland funktionieren?

Seifert: Warum nicht? Dass wir als DFL jährlich 17 Millionen Euro in das Schiedsrichterwesen investieren und der DFB ebenfalls einen Millionenbetrag, rechtfertigt bereits eine eigenständige Organisation. Für die Schiedsrichter ist das eine große Chance. Es gibt keine Alternative zur Professionalisierung des Schiedsrichterwesens. Es würde mich wundern, wenn es beim DFB kein Verständnis dafür gäbe.

Was soll so eine Schiedsrichter-Firma den ganzen Tag so treiben?

Seifert: Die Rechtsform ist nicht entscheidend. Zu tun gibt es genug. Nur mal ein Beispiel. Jeder Bundesliga-Manager kennt die talentiertesten 16-Jährigen Spieler in Deutschland. Derzeit kann aber niemand auf Anhieb den talentiertesten 16-jährigen Schiedsrichter nennen, der mit allen Mitteln bis zur Spitzenklasse gefördert werden müsste. Mir ist völlig egal, ob dann fünf aus Nordrhein-Westfalen und drei aus Bayern kommen oder jeweils nur einer und die anderen aus Sachsen-Anhalt und Hessen. Die besten sollen pfeifen.

Wann kann das umgesetzt werden?

Seifert: Ein transparentes System für den Schiedsrichter-Etat von über 20 Millionen Euro hätten wir lieber heute als morgen. Bevor wir aber einen Zeitplan erstellen, müssen wohl zuerst bei den Schiedsrichtern menschlich ein paar Brücken gebaut werden. Wir wollen ja nichts überstürzen. Das Tagesgeschäft muss weitergehen und das System mit Video-Assistenten stabilisiert werden. Denn eines ist uns auch klar: Ich weiß nicht, wer zum Hundertjährigen im Jahr 2063 Meister wird, aber das eine weiß ich: Dass wir auch dann in der Bundesliga immer Schiedsrichter brauchen werden. Sehr gute Schiedsrichter.