Essen. . Nadine Hildebrand pendelt zwischen Kanzlei und Tartanbahn. Dieser Spagat gelingt nicht vielen Sportlern. Über 100 Meter Hürden ist sie die Nummer drei in Europa und will in Zürich eine Medaille holen.

Von Stuttgart nach Zürich, aus der Kanzlei auf die Tartanbahn. Statt schwarzer Anwaltsrobe wird Nadine Hildebrand am morgigen Dienstag das schwarz-rot-goldene Nationaltrikot tragen. Nadine Hildebrand ist die schnellste Rechtsanwältin Europas, wahrscheinlich sogar auf der Welt. Die 26-Jährige nimmt jede Hürde. Morgen will sie keinen Prozess gewinnen, morgen muss sie sich nicht mit Staatsanwälten oder gegnerischen Juristen auseinandersetzen, morgen will sie bei den Leichtathletik-Europameisterschaften die Konkurrenz im Vorlauf und Halbfinale in die Schranken weisen, um dann am Mittwoch mit einem perfekten Lauf im Finale zu einer Medaille über 100 Meter Hürden zu stürmen. Die Aussichten sind sehr gut: In der europäischen Jahresbestenliste steht sie auf dem dritten Platz.

Nadine Hildebrand hat das geschafft, was nur wenigen Sportlern der Weltklasse gelingt. Beim Spagat zwischen Leistungssport und Beruf haben sich schon viele verrenkt: Sie haben beides versucht und haben wegen der enormen Belastung in keinem Bereich den gewünschten Erfolg gefeiert.

Nadine Hildebrand sagt auch, dass es sehr, sehr anstrengend sei, die Karriere in der Kanzlei und auf der Bahn voran zu treiben, aber für sie stellte sich nie die Frage: Setze ich voll auf die Karte Sport? „Ich habe schon mein Studium mit dem Sport koordiniert”, sagt sie, „wenn ich nur über die Hürden laufen würde, wäre ich schon längst verblödet. Und was würde ich mit der freien Zeit machen? Noch mehr an den Sport denken. Nein, es ist gut so, wie es ist.”

Ihr großer Vorteil: Sie kann sich locker ihrem Sport widmen. Ohne Existenzangst, wenn es mal nicht so läuft wie gewünscht. „In diese Panik wollte ich nie verfallen”, sagt sie, „ich kann ja nicht bis 60 über die Hürden rennen.”

Doping war nie eine Option

Zeitmanagement heißt das Zauberwort der Nadine Hildebrand. Das klappt aber nur so gut, weil sie seit einem Jahr halbtags in einer Stuttgarter Anwaltskanzlei arbeitet, die nicht nur vollstes Verständnis für die großen sportlichen Ambitionen ihrer jüngsten Kraft hat, sondern auch bei ihren Auftritten über die zehn Hürden mitfiebert. „Wenn ich in Zürich laufe, sitzen alle Kollegen vor dem Fernsehgerät und drücken mir ganz fest die Daumen.” Auf Transport- und Speditionsrecht ist sie spezialisiert und im Büro verantwortlich für: na klar, Sportrecht. „Da geht es nicht nur um Dopingfälle, sondern um Verträge mit Fußballprofis und Managern”, sagt sie.

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Dopingskandale gibt es genügend in der Leichtathletik. Für Nadine Hildebrand hat sich die Frage nie gestellt, den Weg über die Hürden mit verbotenen Mitteln schneller absolvieren zu können: „Ich möchte wissen, was mein Körper auf natürlichem Weg fähig ist zu leisten.”

Nur 1,58 Meter groß

Seit den Deutschen Meisterschaften in Ulm steht ihre Bestleistung bei 12,71 Sekunden über 100 Meter Hürden. Mit Trainer Werner Späth hat sie Stunde um Stunde an der Technik gefeilt, ein größeres Augenmerk auf die Sprintfähigkeit gelegt und ihren Start verbessert. Frau Anwältin arbeitet weiter an diesem Hürden-Fall: Nur wer sich nicht zu früh zufrieden gibt, kommt in die Spitze.

Nadine Hildebrand ist nicht nur die schnellste Anwältin in der Weltklasse, sie ist auch die Kleinste. Als der Reporter dieser Zeitung fragt, ob es denn ein Manko sei, mit einer Größe von nur 1,58 Metern die Hürden zu überqueren, schmunzelt die Deutsche Meisterin und antwortet: „Auf diese Frage habe ich doch schon gewartet. Offensichtlich geht es. Ich war schon immer so winzig und werde es in meiner Karriere auch bleiben.”

In Zürich will sie ohne Schlenker über die Hürden kommen. Dafür hat sie alles getan. Aber bei allem Ehrgeiz auch im Beruf: Gerichtsakten hat Nadine Hildebrand nicht mit nach Zürich genommen. Urkunden würde sie dagegen gern bei der EM lesen. Nicht solche aus dem Grundbuch, sondern solche von der Siegerehrung – mit ihrem Namen drauf.