São Paulo. . Brasiliens Neymar erzählt vor dem WM-Auftaktspiel Anekdoten und träumt vom Titel. Die Abhängigkeit der Seleção von ihrem Star ist allerdings eklatant. An guten Tagen kann er Spiele im Alleingang entscheiden. An weniger guten Tagen aber verheddert er sich in seinem trickreichen Stil.
Von Neymar da Silva Santos Júnior oder kurz Neymar war angenommen worden, dass die Welt schon alles Wesentliche und auch Belanglose über ihn erfahren hat. Aber vor dem Auftakt dieser WM gab es doch noch eine Anekdote, die nicht nur erwähnenswert ist, weil sie etwas erzählt über den kickenden Popstar des FC Barcelona. Sondern auch über seine Heimat Brasilien und den Stellenwert, den der Fußball und die Nationalelf dort einnehmen. Neymar hat sie selbst vorgetragen. Eine Erinnerung aus Kindheitstagen, bevor ihn heute die Gegenwart und das WM-Eröffnungsspiel gegen Kroatien in São Paulo beschäftigen werden.
Fußball als sozialer Kitt der Nation
Am 30. Juni 2002 hat sich die kleine Geschichte zugetragen. Morgens um acht Uhr saß der zehn Jahre alte Neymar mit seinen Eltern und seiner Schwester vor dem Fernseher, um das Finale der WM in Japan zu verfolgen. Brasilien spielte gegen Deutschland. „Ich bin schon in der Dämmerung aufgestanden“, berichtete Neymar, und auch das unterschlug er nicht: „Ich habe schon etwas vom Fußball verstanden und mir sogar die Haare genauso geschnitten wie Ronaldo.“ Nachdem dieser Ronaldo mit dem damals bis auf die Stirnpartie kahlrasierten Schädel die beiden Tore zum 2:0 erzielt hatte, sei die Familie zur Oma gefahren und habe ein Grillfest veranstaltet. „Alle haben geschrien: ‚Weltmeister!‘ Wie fanatische Fans“, erinnerte sich Neymar. Dann sagte er: „Die WM war immer das Ziel meines Lebens.“ Nun steht er vor seinem ersten großen Turnier.
Es gibt unter den 200 Millionen Brasilianern auch jetzt viele kleine Neymars in spe, die schon etwas von diesem Sport verstehen, aber weniger begreifen, warum in ihrem Land so viele Menschen ein Problem mit diesem Turnier haben. Doch trotz allem wünscht sich ein Großteil der Bevölkerung, dass es wie vor zwölf Jahren wieder klappt mit dem Titelgewinn. Zumal beim Heimspiel und mit jenem Trainer, dem damals der fünfte Triumph Brasiliens gelang.
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Luiz Felipe Scolari, 65, arbeitet mit seiner Mannschaft seit Beginn seiner zweiten Amtszeit Ende 2012 darauf hin. Hexacampeão, der sechste Titel, um nicht weniger geht es.
Scolari hat Sätze gesagt wie diese: „Mit Platz drei ist bei uns die Hölle los. Weltmeister oder nichts.“ Er wusste um die immensen Erwartungen, die die Nationalelf beim zweiten Turnier in der Heimat begleiten werden, nach dem schockierenden Erlebnis 1950, als der sicher geglaubte Titel durch ein 1:2 gegen Uruguay noch entglitt.
Was Scolari zu Beginn seines Dienstes im Auftrag der Nation nicht ahnte: Seine Mannschaft muss auch als gesellschaftlicher Kitt dienen. Ein frühes Aus, und die heikle Mixtur aus Enttäuschung über den sportlichen Misserfolg sowie die Unmut über die Unwucht zwischen WM-Ausgaben und Lebensbedingungen könnte unangenehme Folgen haben. Auch deshalb wirkt der Trainer noch penibler, als er ohnehin gilt. Selbst die Trauer über zwei Todesfälle in der Familie schob er beiseite.
Es ist eine Mission für 200 Millionen, die an diesem Donnerstag in São Paulo für die Seleção offiziell beginnt. Und die Wahrscheinlichkeit, dass sie von Erfolg gekrönt sein wird, ist wesentlich geringer als die für eine Enttäuschung. Da ist zum Beispiel Torwart Julio Cesar, 34, vom FC Toronto, der lange keine Praxis sammeln konnte, und der im Dress seines Landes immer wieder mit Unsicherheiten auffällt. Oder Stürmer Fred, der zuletzt fast ein halbes Jahr lang ausgefallen war und erst kurz vor der WM bei Fluminense wieder Fuß fasste, allerdings nur auf dem mittelprächtigen Niveau des brasilianischen Vereinsfußballs. Hinzu kommt Oscar, der beim FC Chelsea zuletzt zwar auf viele Einsätze kam, aber oft als Ergänzungsspieler und noch häufiger nicht über volle 90 Minuten. Scolari dürfte dennoch seiner bisherigen Stammelf vertrauen, auch teils aus Mangel an Alternativen.
Pfiffe beim letzten Testspiel der Brasilianer
Vor allem jedoch ist die Abhängigkeit von Neymar eklatant, der an guten Tagen Spiele im Alleingang entscheiden kann, sich an weniger guten Tagen aber in seinem trickreichen Stil samt Dribblings verheddert. Herauskommen dann solche Auftritte wie im letzten Test gegen Serbien vor sechs Tagen, als sich Brasilien zu einem 1:0 quälte und die Zuschauer pfiffen.
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Damit sich das gegen Kroatien nicht wiederholt, haben alle in der Seleção schon an die Landsleute appelliert, das Team geduldig zu unterstützen. Und natürlich auch den Hoffnungsträger Neymar mit seinen gerade 22 Jahren, der die enormen Erwartungen schultern muss. „Das belastet mich nicht, es macht mich glücklich“, erklärte der und sprach vom erhofften Ende der Mission, die nun wenige Kilometer entfernt von seinem Geburtsort Mogi das Cruzes beginnt. Er sagte: „Ich möchte schreien: ‚Weltmeister!‘“
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