Essen. . Sechs Jahre fuhren Andre Greipel und Mark Cavendish in einem Team beim HTC Columbia und wurden dabei keine Freunde. Nun geht der Rostocker Greipel für den belgischen Rennstall Lotto an den Start und ist zum Sieg-Sprinter geworden. Bei der 13. Etappe am Samstag könnte erneut seine Stunde schlagen.

Im belgischen Radprofi-Rennstall Lotto dreht sich bei Flachetappen alles um einen Deutschen. Und so verwunderte es nicht, dass vor dem Start der 99. Tour de France nicht nur der belgische Kapitän Jurgen van den Broeck, sondern auch der Rostocker Andre Greipel von den Journalisten umringt wurde. „Ganz klar. Mein Ziel ist es, eine Etappe zu gewinnen“, diktierte Greipel den Reportern in die Blöcke, „wenn mir das schon früh gelingt, warum sollte ich dann nicht auch noch einen zweiten Sieg einfahren.“ Knapp zwei Wochen später hat Greipel sowohl das eine als auch das andere Vorhaben längst erledigt. Nach seinen Triumphen auf der vierten und fünften Etappe könnte am Samstag erneut die Stunde des Andre Greipel schlagen. Denn das Streckenprofil der 13. Etappe von Saint-Paul-Trois-Chateaux über 217 Kilometer nach Le Cap d’Agde ist ideal für die schnellsten Leute des Feldes. Und Andre Greipel ist einer der Schnellsten der Schnellen. Neben dem Slowaken Peter Sagan, der das Grüne Trikot des Punktbesten trägt, und natürlich neben dem Briten Mark Cavendish, dem Mann im Regenbogen-Dress des amtierenden Weltmeisters.

Das Duell der Supersprinter Greipel und Cavendish

Der Konkurrenzkampf zwischen Greipel und Cavendish, das ist weitaus mehr als ein Duell von zwei Supersprintern. Es ist die Geschichte von zwei Radprofis, die ihre gegenseitige Abneigung seit vielen Jahren pflegen. Als ebenso junge wie talentierte Radprofis haben sie zusammen beim Team HTC Columbia begonnen. Sechs Jahre fuhren sie zusammen in dieser Mannschaft. Sechs Jahre, in denen sie sich nichts schenkten. Weder auf dem Asphalt noch bei den Kommentaren im Zielauslauf. Im Februar 2007 ließ Greipel seinen Frust über den ungeliebten Teamkollegen ab. „Cavendish. Du sprintest nur für dich! Du bist ein Egoist“, schrie der Rostocker den Profi von der Isle of Man an.

Cavendish und Greipel, das sind zwei Fahrer, deren Naturell unterschiedlicher nicht sein könnte. Während Cavendish die lauten Töne und die großen Auftritte liebt, ist Greipel eher introvertiert, auch wenn ihm irgendwann der Kragen über die missachtenden Worte seines Teamkollegen platzte. „Selbst wenn ich einen schlechten Tag habe, bin ich schneller als Greipel“, posaunte Cavendish heraus und legte eine weitere Provokation nach: „Greipel wird nie etwas gewinnen.“ Ihr damaliger Teamchef Brian Holm charakterisierte Cavendish so: „Wenn Mark Diplomat geworden wäre, hätte er den dritten Weltkrieg ausgelöst.“

Greipel trägt den Spitznamen "Gorilla"

Da Cavendish aber nur im außerdiplomatischen Dienst tätig und der etwas schnellere Sprinter war, musste Greipel im Sommer stets zuschauen, wenn sein Team-Konkurrent bei der Tour um Etappensieg sprintete. Nach sechs Jahren wollte der Deutsche nicht länger im Schatten des Briten stehen und heuerte bei Lotto an. Mit großem Erfolg. Greipel wurde Dritter bei der WM 2011 und fuhr im gleichen Jahr auch den ersten Etappensieg bei der Tour ein.

In diesem Jahr machte Greipel einen weiteren Schritt nach vorn. Immer öfter konnte er im Ziel als Geste des Sieges seinen linken Arm hochreißen, auf dem die Namen seiner Töchter Anna und Luna tätowiert sind. „Jetzt hat er sich endlich vom Teddy-Bären zum Grizzly gewandelt“, sagt Marc Sergeant, der Lotto-Teamchef. Dabei trägt Greipel eigentlich seit Jahren den Namen eines anderen Tieres als Spitznamen. „Gorilla“ wird er respektvoll
genannt. Wegen seiner unbändigen Kraft. Wegen der unglaublichen Energie, die er auf der Zielgeraden im Endspurt aus seinem muskulösen Körper herauszuholen versteht. 1800 Watt bringt der 1,83 Meter große und 80 Kilo schwere Greipel in Spitzenmomenten auf die Pedale. So viel wie kein anderer. Cavendish schafft nur 1300 Watt. Allerdings ist er zwölf Kilo leichter und kann so ruckartiger beschleunigen.

Teamgeist bei Omega Pharma Lotto

Greipel ist aber nicht nur Teil einer erbitterten Rivalen-Geschichte. Der 29-Jährige ist auch die Hauptfigur in einer der Geschichten um Teamgeist und Harmonie, die im Radprofi-Zirkus ebenso oft wie gern erzählt werden. Die Wasserträger transportieren nicht nur unermüdlich eine Flasche nach der anderen von den Begleitwagen am Ende des Feldes zu den durstigen Bossen an der Spitze, sie stellen sich auch Kilometer um Kilometer voll in den Wind, damit die Chefs ihre Kräfte für die steilen Anstiege oder für das große Sprint-Finale sparen können. Das Team Omega Pharma Lotto hat für Greipel gleich mehrere Edel-Helfer verpflichtet. Angeführt von Greipels Freund Marcel Sieberg aus Castrop-Rauxel bilden sie einen Begleit-Zug, dem der Chef im Windschatten nur folgen muss, um am Ende seinem Ruf als Gorilla gerecht zu werden. „Wir sind neun Freunde im Team“, sagt Greipel, „der Sieg geht nur über uns.“ So soll es auch am Samstag sein, wenn er in Le Cap d’Agde seinen linken Arm in die Höhe strecken will.