Essen. Boxchampion, Entertainer, Rebell, Friedensbotschafter: Muhammad Ali wird 70. Jeder Superlativ scheint zu schwach, um einem wie ihm gerecht zu werden. Eine Würdigung des Jahrhundertsportlers.

Der Vergleich mit ihm lässt selbst große Champions schrumpfen. Als der frühere Schwergewichts-Boxweltmeister Joe Frazier unlängst starb, kam sein Name in den Nachrufen oft erst in den Untertiteln vor. Die Schlagzeilen lauteten in der Regel: „Alis härtester Gegner tot“. Mochte ein Athlet auch in seinem Schatten stehen – gegen ihn gekämpft zu haben, blieb doch die größte Ehre: Muhammad Ali, der an diesem Dienstag 70 Jahre alt wird. Jeder Superlativ scheint zu schwach, um einem wie ihm gerecht zu werden, der als Champion, Rebell und mahnende Stimme die Massen in aller Welt bis heute fasziniert.

Mit dem Abstand von 40 Jahren, in einer Zeit, in welcher der Sport täglich seine Ideale verrät, mutet es unfassbar an: Der erste wirkliche Entertainer des Sports verstand auf dem Gipfel seines Erfolgs keinen Spaß mehr, als es darum ging, Glaubwürdigkeit und Konsequenz zu beweisen, und opferte um seines Glaubens willen alles, was ihm sein Beruf verhieß.

Es gibt viele bedeutende Tage im Leben des Muhammad Ali, der am 17. Januar 1942 in Louisville/Kentucky als Cassius Marcellus Clay geboren wird.

Der 19. Juli 1996 markiert die vielleicht größte Zäsur. Erregt hat er die Menschen schon immer. In diesem Moment, da 83 000 Zuschauer im Olympiastadion von Atlanta und Milliarden vor den Bildschirmen den Atem anhalten, rührt Ali sie an. Seine Hand, die die schnellsten Jabs der Boxhistorie schlug, zittert im Wind, während er seinen wohl emotionalsten Kampf ausficht: das olympische Feuer zu entzünden. Als die Flamme endlich lodert und das vom Parkinson-Syndrom gezeichnete Gesicht des letzten Fackelträgers auf der Videowand der im Dunkeln liegenden Arena eingeblendet wird, schämt sich niemand seiner Tränen.

„Ich sah es“, schilderte US-Schauspieler Rod Steiger später seine Eindrücke, „und dachte: Lieber Gott, lass ihn bitte die Flamme entzünden können. Sein Leben lang hat er Licht gebracht.“

Drei weitere Daten auf Alis beispiellosem Weg in den Olymp bleiben unvergessen:Am 25. Februar 1964 begründet der Halbschwergewichts-Olympiasieger von Rom (1960) mit dem Sieg über den als unschlagbar geltenden Sonny Liston in Miami Beach seinen Mythos.

Am 28. April 1967 wird der inzwischen zum Islam konvertierte Ali zum Symbol der Protestwelle gegen das Amerika des Vietnam-Krieges, als er vor dem Rekrutierungsbüro der US-Army in Houston den Kriegsdienst mit der Begründung verweigert: „Ich habe kein Problem mit dem Vietcong.“ Zwei Monate später verurteilt ihn eine ausschließlich aus Weißen bestehende Jury zu fünf Jahren Gefängnis.

Am 30. Oktober 1974 feiert der inzwischen 32-Jährige im „Rumble in the Jungle“ in Kinshasa gegen George Foreman das spektakulärste Comeback der Boxgeschichte.

In der Nacht der olympischen Eröffnungsfeier von Atlanta gibt es keinen Beobachter, der diese Bilder einer einzigartigen Karriere, die mehr als bloß den Sport veränderten, nicht im Kopf hätte. In den 60-er und 70er-Jahren, als in Deutschland Millionen Boxfans für seine Kämpfe den Wecker stellen, gilt Muhammad Ali als schillerndste Sport-Persönlichkeit seiner Zeit. Zur Ikone aber wird er erst nach seinem überwältigenden olympischen Comeback.

Amerikas schlechtes Gewissen beruhigt

„Die Menschen“, wird Alis vierte Ehefrau Lonnie später sagen, „haben Muhammad ein zweites Mal entdeckt.“ Eine Erfahrung, die den Ex-Champion in der Nacht danach stundenlang mit der Fackel in der Hand in einem Sessel seines Hotelzimmers sitzen lässt.

Weil Ali schon während seiner Box-Karriere polarisierte, wundert es nicht, dass auch sein bewegender Atlanta-Auftritt Skeptiker auf den Plan ruft, die abfällig von rührseliger Hollywood-Inszenierung sprechen. Unterstellt, die Olympia-Organisatoren hätten wirklich bloß einen gigantischen PR-Coup im Sinn gehabt – dass Ali an diesem Abend endgültig seinen Frieden mit der Welt schloss, wäre Rechtfertigung genug.

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Aber vielleicht will ja auch bloß Amerika das eigene schlechte Gewissen beruhigen und Frieden mit seinem einstigen Provokateur schließen. Jenes Amerika, das dem faszinierendsten Champion der Boxgeschichte die besten Jahre seiner Karriere raubt.

Was für ein Szenario: Ausgerechnet der Mann, dessen Geburtsname Cassius in aller Welt für „Großmaul“ steht; ausgerechnet der Mann, der für eine gute Werbung wahlweise den bösen Buben oder den Medien-Clown spielt; ausgerechnet der Mann, der das Rampenlicht wie die Luft zum Atmen nötig zu haben scheint, stellt in dem Augenblick, als es um alles geht, seine Gesinnung über alles.

Ringschlachten wie Gladiatorenkämpfe

Erst im September 1970 erhält Ali seine Box-Lizenz zurück. Neun Monate später hebt der Supreme Court der USA die nie vollstreckte Gefängnisstrafe gegen den gläubigen Moslem auf. Die sportliche Dimension seiner dreieinhalbjährigen Verbannung aus dem Boxring hat sein legendärer Trainer Angelo Dundee deutlich gemacht: „Wir haben Ali niemals auf der Höhe seiner Möglichkeiten gesehen.“

Das, was die Welt sieht, ist freilich immer noch großartig genug, mag Ali auch nicht mehr tanzen wie ein Schmetterling und nicht mehr stechen wie eine Biene. In gerade mal 21 Monaten fegt er 1971/72 zehn Weltklassegegner aus dem Ring. Aber komplett wird das Heldenepos erst durch das Duell mit dem neuen Weltmeister George Foreman und den dritten Fight gegen Joe Frazier im „Thrilla von Manila“. Archaische Ringschlachten mit der Brutalität von Gladiatorenkämpfen.

Selbst „The Greatest“ ist jedoch nicht davor gefeit, den berüchtigten Kampf zu viel zu bestreiten – angetrieben von seinem Clan, für dessen Lebensunterhalt er sorgt. In seinen letzten Runden bis zum bitteren Ende gegen Trevor Berbick 1981 auf den Bahamas macht der Mann, der als tänzelnder Irrwisch zwischen den Ringseilen wirbelte, eine erbarmungswürdige Figur. Und als sich wenig später die Zeichen des Parkinson-Syndroms verstärken, wirkt jeder Auftritt wie eine bittere Ironie des Schicksals: Das Bewegungswunder – ein schlurfender, zittriger Kranker; die Quasselstrippe – ein nuschelnder, apathisch wirkender alter Mann, aus dessen toten Augen nur ab und zu noch die Erinnerung blitzt.

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Doch Atlanta, wo er 1970 gegen Jerry Quarry seinen ersten Comeback-Kampf bestritt, bringt die Wende: Nicht nur für Ali, der „jetzt weiß, dass er geliebt und akzeptiert wird, egal was er hat“ (Lonnie), sondern auch in seiner Wahrnehmung durch die Welt. Wo immer er danach bei einer seiner Ehrungen erscheint, provoziert er weniger Mitgefühl denn Respekt dafür, dass er auch als kranker Mann seine Würde bewahrt.

Die Stimme des einstigen „Lautsprechers“ mag nur noch schwer zu verstehen sein, gehört wird sie immer noch. Als der Moslem Ali, inzwischen Friedensbotschafter der Vereinten Nationen, kurz nach dem 11. September 2001 die barbarischen Terroranschläge auf Amerika verurteilt, unterbrechen Radio- und TV-Sender ihre Programme, um seine Friedensbotschaft zu verlesen.

Schauspieler Billy Crystal, der die von „Sports Illustrated“ durchgeführte Ehrung Alis als „Sportler des Jahrhunderts“ moderierte, glaubt: „In seiner jetzigen Stille ist er fast noch lauter, als er war, als er tobte und lärmte.“

Aber schon damals vermochte Ali auch leise Töne anschlagen. Auf die Frage, wie er in Erinnerung bleiben möchte, antwortete er: „Als Schwarzer, der den Titel im Schwergewicht gewonnen hat und jeden gerecht behandelt hat. Als ein Mann, der nie auf die herabgesehen hat, die zu ihm hinaufgesehen haben.“

Der Wunsch ist in Erfüllung gegangen.