Frankfurt. Im Interview mit DerWesten spricht Bundestrainer Joachim Löw über Egoismus, Bescheidenheit, Respekt, Dauerdruck, die eigene Schwäche – und Weihnachten. “Das bedeutet für mich: ein wenig Ruhe, Familie, die Tradition“, sagte Löw.
Die Zentrale des Deutschen Fußball-Bundes in Frankfurt. Joachim Löw fährt mit dem Taxi vor. Es wird ein Stresstag für den Bundestrainer werden. Es soll der letzte Stresstag in diesem Jahr für ihn sein. Fernsehsender, Radiosender, Zeitungen. Alle wollen sie etwas von Löw. Deshalb wird dieses Gespräch mit einer Ermahnung von Nationalelf-Sprecher Harald Stenger enden: „Ich weiß, dass der Jogi noch gerne weiter reden würde. Aber die Zeit drängt.“
Sie waren Messdiener, Herr Löw. Was bedeutet Ihnen heute Weihnachten?
Joachim Löw: Weihnachten bedeutet für mich: ein wenig Ruhe, Familie, die Tradition.
Gehen Sie in die Kirche?
Löw: Ja. An Heiligabend ja. Wir gehen an Weihnachten gerne mit der Familie in die Kirche.
Sie haben die Ruhe betont. Ist es am Heiligen Abend ruhig bei Ihnen zu Hause?
Löw: Ein Großteil der Familie wird da sein. Dieser private Kreis bedeutet für mich Ruhe.
Fragt Sie denn niemand, wie es um die Nationalelf steht?
Löw: Nein, das Thema ist dann relativ außen vor.
Um Sie auf die Mannschaft anzusprechen: Ist das Kommunizieren, ist die Fähigkeit zur Kommunikation ein Auswahlkriterium für Sie?
Löw: Es ist auch ein Auswahlkriterium. Als Trainer fragt man sich ja auch: Wie verhalten sich Spieler innerhalb eines Teams? Eine Mannschaftszusammensetzung ist heutzutage vielleicht viel wichtiger als je zuvor. Und für das Team gibt es natürlich gewisse Werte, die zu beachten sind. Respekt. Toleranz. Disziplin. Verlässlichkeit. Seriosität. Bescheidenheit. Konzentrationsfähigkeit.
Lassen Sie Ausnahmen zu, wenn die fußballerische Klasse stimmt?
Löw: Natürlich ist in erster Linie entscheidend: Können die Spieler das umsetzen, was der Trainer will? Aber gerade, wenn es in die Richtung eines Turniers wie der Europameisterschaft geht, dann fragt man sich auch: Welche Spieler können Energie geben? Welche Spieler sind frusttolerant, wenn sie mal nicht spielen? Welche Spieler können Konkurrenzkampf fördern, welche ihm standhalten? Und: Welche Spieler sind vielleicht von zu viel Egoismus geprägt? All das ist sehr wichtig. Besonders, wenn 60 bis 70 Menschen acht Wochen lang auf einem sehr engem Raum zusammen sind.
Wie viel Egoismus verträgt ein Team?
Löw: Das ist schwer zu beantworten. Das hängt von der individuellen Klasse ab.
Also muss der Egoist richtig gut sein.
Löw: Selbstverständlich. Als Trainer muss man aber auch erkennen: Wann überwiegt der Egoismus und wo sind die Grenzen? Teamgeist steht für mich über allem.
Joachim Löw über die Egoisten in der deutschen Nationalelf
Wer sind die Egoisten in der deutschen Nationalelf?
Löw: Ich glaube, diese Frage können Sie selbst beantworten.
Es gibt keine Egoisten?
Löw: Ich sehe zumindest keinen ausgesprochenen Egoisten in unserer Mannschaft. Ich sehe bei uns in den letzten Monaten ein extrem gutes Team, in dem niemand nur sich in den Vordergrund spielen will.
Es ist also kein Zufall, dass sich unter Besten kein Egoist befindet, nicht wahr?
Löw: Zum einen denke ich, dass die Spieler, die in den vergangenen ein, zwei Jahren hochkamen, fußballerisch sehr gut ausgebildet sind. Ich glaube aber auch, sie sind besser vorbereitet auf die Karriere als es Spieler noch vor zehn Jahren waren. Die Spieler heute sind selbstbewusst, zielorientiert – und sie verstehen, was es heißt, in einem Team zu spielen. Ich rede aber von der Elite. Die breite Masse kann ich nicht beurteilen. Einen Götze, Özil, Khedira, Neuer halte ich für extrem teamfähig – und eigenständig.
Wenn die Spieler so reif sind, braucht man dann denn überhaupt noch diesen Führungsspieler, über den so viel diskutiert wird und der in Deutschland gern Leitwolf genannt wird?
Löw: Führungsspieler werden immer gebraucht. Wenn man keine Führungsspieler hat, dann ist kein Erfolg möglich. Aber heute ist die Art und Weise eines Führungsspielers eine andere als früher. Spieler wie Lahm, Schweinsteiger, Klose und Mertesacker oder auch junge Spieler wie Neuer und Khedira, die übernehmen Verantwortung, auf dem Platz, aber auch neben dem Platz. Sie sind auch in der Lage, zu schauen, wie eine Gruppe funktioniert. Sie können kommunizieren. Und das ist wichtig, weil die ganz jungen Spieler Kommunikation wollen. Sie wollen Argumente. Und Führungsspieler, das sind auch Spieler, die am Boden bleiben, die bescheiden bleiben, die immer besser werden wollen. Die geben sich nicht zufrieden mit irgendwelchen Siegen oder einem Titel. Sie wollen mehr.
Sie erwähnten Bescheidenheit. Das klingt fremd im Fußball, im großen Unterhaltungsgeschäft. Geht es Ihnen, wenn Sie den Begriff verwenden, auch um ein gewisses Auftreten in und gegenüber der Gesellschaft?
Löw: Das ist schon ein wichtiger Punkt. Bescheidenheit, Respekt gegenüber dem Publikum. Oder auch gegenüber einer anderen Kultur, einem anderen Land.
Über den Dauerdruck im Geschäft
Aber muss ein Profifußballer sich denn einfach nicht sehr früh egoistisch ins Schaufenster stellen?
Löw: Es ist nicht einfach für junge Spieler, damit umzugehen, wenn sie mit 19 oder 20 Jahren eine gute Leistung bringen, wenn sie sich in die Öffentlichkeit spielen und viel Geld verdienen. Im Gegenteil: Es ist schwer, extrem schwer. Bei einigen Spielern hat man in der Vergangenheit deshalb schon das Gefühl gehabt: Sie driften von ihrem Weg ab. Es ist deshalb wichtig, sich mit dieser Situation auseinanderzusetzen, mit Sieg oder Niederlage umzugehen. Viele Spieler machen solche Situationen durch, und man muss beobachten: Wer kommt von seinem Weg ab? Wer kann unwichtige Dinge ausschalten, sich mit den richtigen Leuten umgeben und sich absolut auf den Fußball konzentrieren?
Es herrscht Dauerdruck in diesem Geschäft. Wie gehen Sie persönlich damit um?
Löw: Ich habe noch immer das Gefühl, dass mein Job mir viel Spaß macht. Bei einem Turnier ist meine Freude immer noch größer als der Druck, der auf mir lastet. Ich freue mich, gegen Spanien, England, Argentinien, Portugal oder die Niederlande zu spielen. Ich spüre den Druck später. Ich würde lügen, wenn ich sagen würde: Ich spüre den Druck gar nicht. Mir hilft aber zum einen: eine gewisse Distanz zum Fußball, mein privater Bereich. Und es gibt natürlich auch die Leute, die mir Energie geben, wenn ich mich vorübergehend schwächer fühle. Mein Trainerteam, meine engsten Mitarbeiter.
Wenn Sie sich schwach fühlen, gestehen Sie das ein?
Löw: Ja. Natürlich. Meine Mitarbeiter spüren zum Beispiel, wenn meine Begeisterung nachlässt. Und ich bin froh, wenn mir Leute auch mal kritisch etwas sagen. Ich glaube, dass das eine Stärke des Teams ist, dass mein Co-Trainer Hansi Flick, Torwarttrainer Andreas Köpke oder Teammanager Oliver Bierhoff mir schon einmal sagen: Das und das geht in die falsche Richtung.
Können Sie ein konkretes Beispiel nennen, eine konkrete Situation beschreiben?
Löw: Im letzten Jahr, nach der Weltmeisterschaft, da habe ich mich auch gefragt, ob ein Spiel gegen Dänemark wenige Wochen danach Sinn macht. Da hat aber Hansi Flick gesagt: Wir müssen wieder etwas tun, wir müssen wieder über die Gegner reden, wir müssen wieder über unsere Spieler reden, wir müssen wieder neue Profile erstellen, wir müssen die Spieler wieder voran treiben.
Joachim Löw über das System Profifußball
Aber Sie haben selbst gerade die Bedeutung der Ruhe hervorgehoben…
Löw: Ich musste unter anderem ein besseres Zeitmanagement erlernen. Ich musste lernen, das Telefon mal abzuschalten. Was mir wirklich hilft, ist, dass ich meine Arbeitszeit zwischen den Spielen verkürzt habe. Früher habe ich auch zu Hause zehn Stunden am Tag im Büro gesessen. Da gab es aber viel Ablenkung. Und dann ist es mir schwer gefallen, richtig gute Gedanken zu finden. Und irgendwann habe ich mir gesagt: Wenn ich zu Hause bin, arbeite ich konzentriert vier, fünf Stunden, dann denke ich nach, suche Lösungen, und wenn ich das abgeschlossen habe, dann ist es für mich auch gut, wenn ich einen Kaffee trinken gehe oder Fußball spiele.
Ist diese Art der Vorgehensweise ein Privileg, das nur der Bundestrainer genießt? Sie kennen beide Seiten. Sie waren auch Vereinstrainer.
Löw: Also, ich habe das erlebt, zwölf, 13 Stunden immer anwesend. Aber manchmal habe ich eben auch festgestellt: Eigentlich drehe ich mich im Kreis. Als Vereinstrainer hat man einen schnelleren Rhythmus. Aber das bedeutet nicht, dass man jeden Tag von morgens bis spät abends im Verein sein muss, um gut zu sein.
Motiviert nicht letztlich Angst die Daueranwesenheit? Die Angst vor dem Jobverlust, die Angst vor dem Scheitern. Kann ja schnell gehen im Fußball.
Löw: Das kann ich nicht für alle Trainer beurteilen. Für mich war es am Anfang so. Als jüngerer Trainer will man sich ja beweisen. Aber: Man macht dann im Laufe der Jahre seine Erfahrungen. Und für mich ist es einfach besser, wenn ich vier, fünf Stunden lang meine Punkte abarbeite. Wenn ich das konzentriert mache, dann bin ich auch produktiv.
Das ist eine sehr souveräne Haltung. Sie sagen: okay, ich entscheide. Aber es gibt ja auch die Außenperspektive. Dass man etwas für andere tut, um anderen zu demonstrieren, dass man…
Löw: Das habe ich früher vielleicht auch gemacht. Um den anderen zu zeigen, ich bin hier, wenn irgendetwas ist. Aber im Laufe der Jahre merkt man, es ist schon gut, wenn man einfach mal die Tür zumacht.
Kann das System Profifußball krank machen?
Löw: Ich weiß nicht, ob es mit dem System Profifußball zu tun hat. Es gibt zum Beispiel viele Burn-outs auch in anderen Bereichen unserer Gesellschaft. Das kann damit zusammenhängen, dass man immer und überall erreichbar ist, dass man möglicherweise auch im Urlaub nicht abschalten kann. Die Zeit rennt immer schneller. Aber natürlich: Der Fußball verursacht eine hohe Belastung, weil Spieler dem Druck standhalten müssen, weil sie vor ein Millionenpublikum treten müssen.
Es gibt Spieler, die über Nacht nicht mehr Stammspieler sind, es gibt Trainer, die über Nacht nicht mehr Trainer sind…
Löw: Aber auf der anderen Seite fällt im Profifußball die ganz große Existenzangst weg. Die haben andere Menschen in anderen Berufen. Menschen, die eine Familie haben, von denen auch Leistung gefordert wird, die erleben, dass Leute entlassen werden, um sie herum.
Herr Löw, schnell noch einmal eine Weihnachtsfrage: Kümmern Sie sich denn persönlich um die Geschenke?
Löw: Bei uns gibt es keine Geschenke. Für Kinder, ja, aber für die Erwachsenen nicht. Das Geld wird einem guten Zweck zugeführt. Ich halte das auch wirklich nicht unbedingt für notwendig, alles auf Weihnachten zu fokussieren. Schenken kann man über das ganze Jahr hinweg.
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