Daegu. Robert Harting lässt sich wegen seiner entzündeten Patellasehne fit spritzen, um den Diskus-Titel bei der Leichtathletik-WM zu verteidigen. Im Finale von Daegu muss das linke Knie halten.
.Der Wettkampf läuft noch, da steht Robert Harting auf und geht einfach aus dem Stadion. Das Knie! Auf den Tribünen zucken sie zusammen. Es muss das verletzte linke Knie des Diskus-Weltmeisters sein! Hat es noch nicht einmal in der Qualifikation für das WM-Finale in Daegu gehalten? Augenblicke später schiebt sich Harting durch das Marathontor in die Stadion-Katakomben, die schräg einfallende Sonne verdunkelt sich. Eine Burg auf zwei Beinen, die Burg lacht: „Bisschen warm, wa? Da macht man doch keenen Sport.“ Eine Berliner Burg.
Harting pokert an diesem Vormittag, aber er pokert nicht hoch. Auf 64,93 Meter hat er den Diskus im ersten Versuch der Qualifikation geschleudert. Wer 65,50 Meter schafft, ist sicher im Finale. Dazu kommen die Werfer mit den besten Weiten, bis das Zwölfer-Feld voll ist. Harting hat die Dreharbeiten nach dem zweiten Versuch beendet, weil er weiß: „Knapp 65 Meter reichen immer. Wenn nicht, kann ich mich eben selbst in den Arsch treten.“ Harting liebt klare Worte, er wird nie ein Diplomat. Aber natürlich reichen 64,93 Meter am Ende, er steht heute (ab 12.55 Uhr) als Fünftbester im Finale.
Auf seinem linken Knie klebt ein Pflaster. Schmerzen? „Ich spüre gar nichts“, sagt der 26-Jährige. „Drei Spritzen habe ich gekriegt, wahrscheinlich könnte jemand mit dem Hammer aufs Knie hauen, ohne dass ich’s merke.“ Eine Sehne hat sich vor fünf Wochen nach dem Gewinn der Deutschen Meisterschaft in Kassel entzündet. „Seitdem kriege ich Spritzen und nehme Schmerzmittel.“ Zwischendurch, so Harting, seien seine Augen schon ganz gelb gewesen. „Und meine Nieren waren wahrscheinlich doppelt so groß wie normal.“
Harting nimmt Sehnenriss in Kauf
Er konnte an manchen Tagen kaum laufen, hockte nur vor den Hanteln im Kraftraum. „Fünf Wochen habe ich keinen Wettkampf mehr bestritten“, sagt er. „Dafür war der erste Wurf in der Qualifikation gerade ganz ordentlich. Ich bin nicht unzufrieden, und ich bin nicht zufrieden. Im Finale muss ich eben mehr Gas geben.“ Er will seinen WM-Titel mit Macht verteidigen. Er nimmt dafür sogar in Kauf, dass die Sehne reißen könnte.
Harting ist also wieder in die explosive Stimmung eingetaucht, die er für Titelkämpfe braucht. Seinen Bart, der im Trainingslager auf der südkoreanischen Insel Jeju in der vergangenen Woche noch wie ein normaler Bart aussah, hat er ausrasiert und unter den Mundwinkeln zu zwei scharfen Pfeilen zugespitzt. Ein Bär von einem Mann, in Wettkampfzeiten allerdings mehr Grizzly als Teddy.
Harting braucht das Gefühl: Einer gegen alle. Es läuft dann bei ihm alles ab wie in einem Western. Er kommt durch die Saloon-Tür und schlägt einem anderen erstmal eine Flasche über den Kopf, schon ist Stimmung. Bei der WM 2009 in seiner Heimatstadt Berlin legte er sich mit den Dopingopfern der DDR an und drohte ihnen, sie im Olympia-Stadion mit dem Diskus abzuschießen. Die Funktionäre des Deutschen Leichtathletik-Verbandes hatten alle Hände voll zu tun, die Wogen zu glätten. Sein Arbeitgeber, die Bundeswehr, verpasste ihm anschließend ein Kommunikations-Seminar.
Attacke gegen das deutsche Sportsystem
Aber vor Titelkämpfen kommt bei Harting einfach immer noch der Tag, da will die Säge sägen. Dieses Mal attackiert der Diskus-Weltmeister gleich das ganze deutsche Sportsystem. „Polnische Olympiasieger bekommen bis ans Ende ihres Lebens 2000 Euro monatlich, da braucht man in Polen nicht mehr arbeiten zu gehen“, sagte er in einem Interview. „Wir kriegen als Olympiasieger eine Kiste Bier – ein Jahr lang. Wie behämmert ist das denn?“
Hartings Sätze haben bis nach Polen gewirkt. Nach der Qualifikation stehen auch polnische Reporter im Stadion um den 26-Jährigen herum, aber an diesem Vormittag schlummert der Vulkan. Manchmal bricht er unvermittelt aus. „Robert strotzt vor Adrenalin“, umschreibt Hochspringer Raul Spank diesen Zustand. Spank teilt sich mit Harting im Athletendorf ein Appartement und ist froh darüber: „Robert steckt einen an, wir sind auf Kampf eingestellt, und das kann bei einer WM nicht schaden.“
Harting geht seinen Weg bewusst. „In Berlin war es noch etwas anderes“, vergleicht er die beiden Weltmeisterschaften von 2009 und 2011. „Dort hatte ich die ganzen Zuschauer im Rücken. In Südkorea sind wir alle Gäste, also muss ich mich auch viel mehr selbst pushen.“ Wie das im Finale aussehen wird? Harting verrät es nicht. Fest steht: Wettkämpfe mit dem Weltmeister sind alles, nur nicht langweilig. Jetzt muss nur noch das linke Knie halten, damit Harting nicht auch im Finale früher als geplant aus dem Stadion geht.