Daegu. Yohan Blake ist der neue Weltmeister über 100 Meter - doch dies geriet angesichts des Fehlstarts von Weltrekordler Usain Bolt fast zur Randnotiz. Der Jamaikaner legte nach seiner Disqualifizierung eine Show hin, die ihn nur noch berühmter macht.

Usain Bolt ist einer, für den das Flutlicht erfunden worden ist. Der Jamaikaner tänzelt vor dem WM-Finale über 100 Meter vor dem Startblock und zeigt erst nach links. Dort steht der US-Sprinter Walter Dix, dann zeigt er nach rechts. Dort steht sein Landsmann Yohan Blake. Dann schüttelt Bolt mit dem Kopf und zeigt auf sich: Welt, sieh gefälligst her, ich werde siegen! Eine Minute später ist er der Verlierer des Abends. Disqualifiziert nach einem Fehlstart.

Dabei ist ein solch amateurhafter Fehlstart wie dieser in Südkorea bei dem Weltrekordler eigentlich gar nicht vorstellbar. Bolt tut nicht nur locker, er ist wirklich cool. Egal, ob in der Fußgängerzone von Daegu, wenn er Autogramme schreibt, ob auf der Tanzfläche, wenn er die Mädchen anlächelt, oder ob im Stadion, wenn er rennt. Immer ist er so cool, als würden ihm gleich ein paar Eiswürfel aus der Hosentasche fallen.

Im Halbfinale hat er anderthalb Stunden vor seinem Patzer mit seiner Konkurrenz gespielt und nach 80 Metern den Gang raus genommen. Wäre Muhammad Ali nicht als größter Boxer aller Zeiten durch den Ring getanzt, wäre er gelaufen wie Bolt. Und dann so was? Was steckt dahinter? Wirklich nur eine Panne?

Bolt zieht eine Show ab

Der Jamaikaner möchte genau diesen Eindruck gerne der Welt vermitteln. Als die restlichen sieben Läufer nach seinem Fehlstart wieder in den Blöcken kauern, zieht er dahinter seine Show ab. Ein kleiner koreanischer Ordner versucht, den Olympiasieger aus der Sicht zu drängen. Vergeblich, ein Bolt lässt sich nicht drängen. Er hat sein Trikot ausgezogen und versucht, sich theatralisch in dem blauen Vorhang hinter der Trage der Sanitäter zu verstecken. Der Ordner sieht verzweifelt aus.

Der zweite Startschuss fällt. Der Jamaikaner Yohan Blake siegt in 9,92 Sekunden vor dem US-Amerikaner Walter Dix (10,08) und dem Altmeister Kim Collins (10,09), nach dem sie auf seiner Heimatinsel St. Kitts and Nevis schon nach seinem WM-Triumph von 2003 die Straße zum Flughafen benannt haben. Im Stadion nehmen die Zuschauer das Rennen zur Kenntnis, mehr nicht. Blake hüllt sich in die Fahne Jamaikas, die Menschen suchen Bolt irgendwo in dem blauen Vorhang. Aber der schnellste Mann der Welt, der alle 100-m-Rekorde mit seiner 9,58-Zeit pulverisiert hatte, ist verschwunden.

Alle Fragen drehen sich um den Fehlstart

Eine halbe Stunde nach dem Rennen geht der französische Europameister Christophe Lemaitre, der Vierter (10,19) wurde, aus dem Stadion. Niemand dreht sich nach ihm um. In einem stickigen Kellerraum, der sich im Licht der Scheinwerfer auf 40 Grad erhitzt hat, sitzen die drei Medaillengewinner bei der Pressekonferenz an einem Tisch. Nachdem Blake gesagt hat: „Auf diesen Augenblick habe ich mein Leben lang gewartet, ich bin Weltmeister“, drehen sich alle Fragen nur noch um Bolt und den Fehlstart. Collins, der mit seinen 35 Jahren der älteste Sprinter ist, der je eine WM-Medaille gewonnen hat, entspannt die Situation mit einem Lächeln: „Fehlstart, der war doch gut für mich.“ Dann grinst er. Wirklich geglückt ist der Scherz allerdings nicht.

Blake, der mit Bolt gemeinsam trainiert hat, soll die Frage beantworten, wie viele Fehlstarts sein Staffel-Kollege denn so im Training produziere. Blake, der 2009 wegen eines positiven Dopingtests auf ein Stimulanzmittel für drei Monate gesperrt war, weicht aus. „Usain ist in WM-Form in Südkorea angekommen.“

Auf diese Art bleibt es in Südkorea die Nacht der Gerüchte, Bolt taucht in den Katakomben der Arena zunächst nicht auf. Irgendjemand will gehört haben, dass der Weltrekordler ein Geräusch gehört hat, das wie ein Startschuss klang. Hat Walter Dix dieses Geräusch auch gehört? „Es war unruhig im Stadion“, antwortet er. „Ich war aber zu konzentriert, um etwas anderes wahrzunehmen.“

"Suchen Sie nach Tränen?"

Dann ist Bolt einen Augenblick lang zu sehen. „Suchen Sie nach Tränen?“, fragt er einen Reporter. „Das wird nicht passieren.“

Weg ist er wieder. Über seinen Fehlstart in Daegu wird wohl mehr diskutiert werden, als wenn er im Finale mit einer für ihn durchschnittlichen Zeit von beispielsweise 9,88 Sekunden eine weitere Goldmedaille seiner Erfolgsstatistik hinzugefügt hätte.

Aber es bleiben Fragen offen. Hat er den Fehlstart provoziert? Seine Form war nicht so überragend wie in den vergangenen Jahren. Hatte er möglicherweise Angst vor einer Dopingkontrolle? Die Antwort darauf wird in den nächsten Tagen folgen: Wenn er Ende der Woche nicht mehr zur Staffel und zum 200-m-Rennen antreten sollte, wird genau dieses Gerücht für ewig im Raum hängen.

Dann wird Bolt das Flutlicht vielleicht plötzlich gar nicht mehr mögen.