Ausgerechnet in St. Pauli, der Heimat der vermeintlich „anderen“ Fans, provoziert ein Becherwurf einen Spielabbruch. In München geht eine Gruppe Bayern-Anhänger auf Präsident Uli Hoeneß los. Hat die Bundelsliga ein Fan-Problem? Ein Kommentar
Musste das sein? Hätte Deniz Aytekin nicht ein Auge zudrücken können? Aus den Fragen, die viele Fans – nach den üblichen Betroffenheitsritualen – im Anschluss an das Skandalspiel am Hamburger Millerntor stellten, war ihre Antwort bereits herauszuhören: Bei einer etwas großzügigeren Regelauslegung wäre der Abbruch der Bundesliga-Partie zwischen St. Pauli und Schalke zu vermeiden gewesen. Schließlich: Keine zwei Minuten waren mehr zu spielen, und der von einem vollen Bierbecher getroffene Linienrichter Thorsten Schiffner schien körperlich in der Lage, die minimale Restspielzeit durchzuhalten, als der Schiedsrichter das im internationalen Sport übliche Zeichen für das vorzeitige Ende einer Veranstaltung gab.
Um es ebenso unmissverständlich zu sagen: Aytekin hat mit seiner Entscheidung ein Signal gesetzt, das dem Fußball dienlich ist: dass nämlich heimtückische Attacken, womit auch immer, keine Kavaliersdelikte sind, die mit dem oft zitierten Fingerspitzengefühl toleriert werden können. Seit den ebenfalls mit Spielabbruch geahndeten Flaschenwürfen am 27. November 1976 in Kaiserslautern beim Duell gegen Fortuna Düsseldorf haben es Unparteiische in vergleichbaren Situationen bei Ermahnungen des Publikums per Lautsprecher-Durchsagen belassen. Die vom Verband verhängten Geldbußen konnten die betroffenen Vereine in der Regel aus der Portokasse begleichen.
Der FC St. Pauli dagegen muss für die Tat eines Wirrkopfs, der an diesem Abend nicht alleine war, einen Preis zahlen, der sich nicht in Euros beziffern lässt. Steht der Bundesliga-Aufsteiger doch vor den Scherben seines sorgsam gepflegten Images als „der etwas andere Klub“. Das entbehrt nicht einer gewissen Tragik, mögen manche Kritiker jetzt auch den Kiez-Klub – schadenfroh? – in der Wirklichkeit angekommen sehen. Rund um das Millerntor hat sich über Jahre eine Fankultur etabliert, die sich vorbildlich für Fair Play und gegen Rassismus sowie kapitalistische Auswüchse im Fußball positionierte. Aus dieser Haltung speist sich die Hoffnung, dass der Prototyp des Underdogs über die nötigen Selbstreinigungskräfte verfügt. Was im Übrigen auch dem FC Bayern zu wünschen ist.
Auf den eigenen Präsidenten wegen der erwogenen finanziellen Hilfe für den TSV 1860 München in primitivster Weise loszugehen („Blaue Schweine schlachtet man, und du willst Metzger sein, Uli?“) und obendrein das Logo des ungeliebten Nachbarn in einem Fadenkreuz zu zeigen, ist – richtig – eine „Schande für den Verein“, wie Sportdirektor Christian Nerlinger entsetzt feststellte. Mit gesunder Rivalität, von der jeder Sport lebt, hat dieses peinliche Verhalten nichts zu tun. Es taugt zum Fremdschämen. Was dies betrifft, dürfen sich allerdings auch diverse Anhänger zweier bekannter Revier-Traditionsklubs getrost angesprochen fühlen.
So unverzichtbar Sicherheitskontrollen im Stadionbereich sind – noch wichtiger bleibt die Selbstkontrolle der Fans. Potenzielle Rabauken und geistige Brandstifter müssen wissen, dass sie von den eigenen Leuten geächtet und nicht durch falsch verstandene Solidarität geschützt werden. Dieses Bewusstsein bei der überwältigenden Mehrheit vernünftiger Fans zu schärfen, ist die Aufgabe der ganzen Liga. Und, nebenbei, auch der Medien.