Hamburg. Die Handball-Nationalmannschaft verzückt in den WM-Tests gegen Brasilien nur selten. Selbstkritik mischt sich mit Selbstvertrauen.
Was den Fußball-Weltmeistern von 1954 der Geist von Spiez war, könnte für die deutschen Handballer ja noch der Geist von Hamburg werden. Nach der morgendlichen Krafteinheit stand der Sonntag in der Hansestadt im Zeichen des Abschaltens. Ein Spaziergang im Tierpark unweit des Hotels war zwar möglich, aber Alfred Gislason machte viel eher „reichlich Arbeit für die Physios“ aus, bevor die Nationalspieler am Montag nach dem Mittagessen ins WM-Quartier Silkeborg aufbrechen. Die Vorbereitung im Norden habe sich ausgezahlt, „wir haben uns bei Olympia schon viel erarbeitet, sind gefestigt“, berichtete Rückraumspieler Luca Witzke, „deshalb mussten wir hier nur Kleinigkeiten auffrischen.“ Und Rechtsaußen Timo Kastening nannte das Miteinander sogar „ein Klassentreffen“, denn „bei uns gibt es keine Neidkultur. Jeder respektiert und akzeptiert den anderen, wie er ist und was er macht.“
Handball-WM: Am Montag bricht das deutsche Team nach Dänemark auf
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Wenn die Stimmung stimmt und die innere Teamhygiene keinen Anlass zur Sorge bereitet, sind dies gute Voraussetzungen für ein wichtiges Turnier wie der Weltmeisterschaft, die ab Dienstag in Dänemark, Kroatien und Norwegen ausgetragen wird. Zwei abschließende Siege in der Vorbereitung gegen WM-Teilnehmer Brasilien (32:25 am Donnerstag in Flensburg, 28:26 am Samstag in Hamburg) sollten ein Gefühl der Leichtigkeit und der Zuversicht mit auf den Weg geben. Doch entgegen der Ergebnisse, die die Zuschauer jubeln ließen, wollten der Trainer und die Spieler nicht überschwänglich mitfeiern.
„Nachdem wir eine Woche hier trainiert haben und wirklich sehr viel sehr gut lief, hätte ich gedacht, dass wir anders spielen“, sagte Gislason nach dem vor allem offensivschwachen Auftritt am Samstag. „Das macht mir schon Sorgen. Es wird nicht so einfach, wie einige denken.“ Juri Knorr, mit fünf Toren am Samstag bester deutscher Torschütze, diagnostizierte „einen kleinen Dämpfer“. Der Lenker und Denker der Rhein-Neckar Löwen sowie der DHB-Auswahl mahnte deswegen vor dem ersten Vorrundenspiel gegen Polen am Mittwoch (20.30 Uhr/ARD): „Wir brauchen wieder einen neuen Flow für das ganz große Ziel, ins Halbfinale oder in die Medaillenränge zu kommen.“
Handball-Kapitän Johannes Golla: „Brauchen harte Arbeit, um zu gewinnen“
Der richtige Zugriff in der Deckung, die Nervenstärke beim Abschluss, gegenseitiges Vertrauen und Unterstützen – die deutschen Handballer wissen nicht erst seit der sensationellen Silbermedaille bei den Olympischen Spielen in Paris, worauf es ankommt. Zusätzlich müssen sie nun der Verlockung widerstehen, die eigenen Ansprüche zu überziehen – die Öffentlichkeit hat seit jeher ihre Erwartungen. Doch diesbezüglich muss sich der Bundestrainer schon mal weniger Gedanken machen. „Wir laufen jetzt ja auch nicht durch die Hallen und denken, wir gewinnen jetzt alles, und alles geht von allein“, stellte der 24 Jahre alte Knorr sicher. Nachdenkliche Worte auch von Johannes Golla: „Wir haben ein erfolgreiches Jahr hinter uns, aber wir sind nicht auf dem Level, dass wir Mannschaften wie Brasilien im Vorbeigehen schlagen“, so der DHB-Kapitän. „Wir brauchen harte Arbeit, um zu gewinnen.“
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Es sind Selbsteinschätzungen, die Alfred Gislason nicht zum Sauertopf werden ließen. „Ich muss die Mannschaft auch loben“, sagte der 65-Jährige. „Du gewinnst nicht viele Spiele, in denen du 20 oder mehr Bälle verwirfst und nur 15 Minuten die bessere Mannschaft bist.“ Das war der Vierte der 2024er Heim-EM zum Glück in der Schlussphase, als Renars Uscins mit dem 27:26 90 Sekunden vor Schluss erstmals seit dem 6:5 wieder eine Führung herbeigeführt hatte. Zur Pause (13:17) und auch im zweiten Durchgang lagen die Südamerikaner gar mit vier Treffern vorne.
Handball-WM: Nationaltorhüter Wolff hadert mit sich und den Vorderleuten
„Die Lehre aus dem heutigen Spiel“, verriet der U21-Weltmeister der TSV Hannover-Burgdorf: „Wir dürfen den Torwart nicht berühmt schießen.“ Nun wird Rangel Luan Da Rosa kein Trauma bei der DHB-Auswahl auslösen, allerdings zeigte der brasilianische Keeper des französischen Klubs Saint-Raphaël mehr Paraden (15) als Andi Wolff (5) und David Späth (6) zusammen. Vor allem Routinier Wolff, am Donnerstag Papa geworden, bekam kaum einen Ball zu fassen, haderte beim 40-minütigen Einsatz mit sich und seinen Vorderleuten.
Mit 17 Spielern geht es nun also ins Nachbarland, Alfred Gislason strich noch den dritten Torhüter Joel Birlehm und Kreisläufer Tim Zechel aus dem WM-Aufgebot. Renars Uscins verspürte trotz aller Defizite „ein gutes Gefühl“, bei allen guten Vorsätzen könne auch „so ein Moralsieg extrem wichtig sein“, meinte Johannes Golla. Die Alarmbereitschaft brachte aber Christoph Steinert auf den Punkt: „Gegen Polen haben wir schon das erste kleine Finale.“