Dortmund. Alfred Gislason vor der Handball-WM über Herausforderungen für sich, Anforderungen an seine Mannschaft und Parallelen zu den Fußballern.
Januar ist Handballzeit. Wenn es um den Feinschliff geht, den die deutschen Nationalspieler in diesen Tagen bekommen sollen, hat Alfred Gislason bei sich zuerst angefangen. Im dunklen Anzug, aber sportlich mit Shirt statt Hemd, erscheint der 65 Jahre alte Isländer zum Gespräch. Ein bewegtes Jahr liegt hinter dem Bundestrainer: erst die Heim-EM mit dem Auftakt vor 50.000 Fans im Stadion von Fortuna Düsseldorf und Platz vier am Ende, dann das Olympia-Spektakel mit der Silbermedaille am Ende um den Hals. Und 2025 wird nicht minder herausfordernd: Am Dienstag beginnt in Norwegen, Dänemark und Kroatien die Weltmeisterschaft. Dafür spielt sich das deutsche Team an diesem Donnerstag (18.30 Uhr/ZDF-Livestream) in Flensburg im ersten von zwei Tests gegen Brasilien ein. Zeit, sich mit Alfred Gislason, der nach elf Jahren beim THW Kiel im März 2020 den Posten beim Deutschen Handballbund übernahm, zu unterhalten.
Herr Gislason, war 2024 für Sie besonders herausragend beziehungsweise auch herausfordernd, um all diese Eindrücke und Erfolge zu verarbeiten?
Alfred Gislason: Ja, schon. Das war schon ein sehr gutes Jahr. Wir sind mit den Leistungen und Erfolgen sehr zufrieden, weil wir ja die Jahre davor eine komplett neue junge Mannschaft aufgebaut haben und nicht unbedingt so direkt zu erwarten war, dass sie Olympia-Silber holt.
Handball-WM: Was Bundestrainer Gislason an seiner Mannschaft begeistert
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Hat Ihre Mannschaft Sie überrascht?
Dafür, dass es so talentierte Spieler sind, ist es immer noch eine relativ unerfahrene Mannschaft. Wir sind extrem stolz auf die Jungs, wie schnell sie als Mannschaft zusammengewachsen sind und sich weiterentwickelt haben. Jeder individuell für sich, aber auch als Einheit: Da merkt man auch das Wir. Es ist das Resultat eines gewissen Kerns, der seit zwei Jahren zusammen ist und sich mit jedem Spiel besser kennenlernt. Eigentlich kann diese Mannschaft von Jahr zu Jahr nur noch besser werden.
Dabei ist das Team schon in der Weltspitze angekommen. Hat das emotionale Olympiaturnier in Paris und Lille, als es diese mitreißende Nervenschlacht gegen Frankreich, aber auch die schmerzhaft klare Finalniederlage gegen Dänemark gab, persönlich anders mitgenommen als andere Turniere?
Das würde ich nicht sagen, es hat mich nur unglaublich stolz gemacht. Ein Turnier ist ein Turnier, da ist man immer im Tunnel. Der Unterschied war, dass es besser lief als in den Jahren zuvor. Bei der vergangenen WM in Polen und Schweden ging es schon diese Richtung, in Paris haben wir uns den Bonus geholt. Aber sonst ist die Arbeit mehr oder weniger immer ähnlich.
Okay, das klingt sehr gelassen, sehr nüchtern. Sind Sie so als Mensch, dass Sie Ihre Arbeit als Trainer wirklich so sachlich einordnen?
Nein, ich kann auch ganz anders. (lacht) Natürlich sind Olympische Spiele das schönste Handball-, nein: Sportereignis. Grundsätzlich war ich auch sehr zufrieden mit meiner Mannschaft, auch wenn es ein paar Momente gegeben hat, die mir so gar nicht gefallen haben. Das Finale zum Beispiel, wo ich eher den Eindruck hatte, dass sich die Jungs gesagt haben: Okay, Silber ist ja auch nicht schlecht, als aber noch eine halbe Stunde zu spielen war. Klar, der Gegner war überragend, aber so eine Einstellung hilft ihnen in der Situation nicht. Und das war schwer zu ertragen. Man selber wird ja über die Jahre reifer, deshalb ist es wichtig, Spiele nachher nüchtern zu analysieren. Aber während eines Spiels lebe ich mich da völlig rein und gebe der Mannschaft alles, was ich habe.
Alfred Gislason über die Leistungsexplosionen bei deutschen Nationalteams
Wenn Sie alle Turniere gleich priorisieren, ist ein Jahr mit einer Weltmeisterschaft doch nicht bloß business as usual, oder? Hat das olympische Turnier trotzdem noch irgendeine Bedeutung für Ihre bevorstehende Aufgabe?
Aber sicher. Es zahlt sich langsam aus, dass wir sehr lange am Kern unserer Spieler festgehalten haben, ihnen vertraut haben, auch wenn es in manchen Spielen mal eine Schwächephase gab. Wir sind davon überzeugt, dass sie unsere besten Leute sind – und das haben sie auch schon bewiesen. Das Olympia-Silber hat ihnen das Selbstbewusstsein und die Gewissheit gegeben: Wenn wir gut spielen, können wir jeden Gegner schlagen. Dieses Verständnis ist kontinuierlich gewachsen, auch wenn es gegen die Dänen am Ende natürlich böse ausgegangen war.
Warum machen die deutschen Nationalmannschaften, wenn wir mal über den Tellerrand hinausschauen, gerade so viel Spaß? Es waren so viele wie noch nie bei Olympischen Spielen, die Basketballer und Hockey-Herren sind Weltmeister, Ihr Team holte Silber in Paris – sogar die Fußballer begeistern wieder ihre Fans.
Vergessen Sie bitte nicht die 3x3-Basketballerinnen, die Unglaubliches geleistet haben in Paris.
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Ebenso wenig wie die Fußballerinnen, die Bronze gewannen. Warum sind deutsche Teams gerade wieder so erfolgreich?
Handballer, Basketballer und Fußballer eint, dass sie relativ gleichzeitig in einem Umbruch waren. Durch ein sportliches Tal zu gehen, kostet viel Energie. Es ist schade, dass Hansi Flick für seine Arbeit beim DFB-Team so kritisiert wurde, aber er hat viele junge Spieler gesichtet und eingesetzt, um seine Leute zu finden. Nichts anderes habe ich auch gemacht. Ja, Julian Nagelsmann hat für die EM Toni Kroos zurückgeholt, der der Mannschaft viel Sicherheit geben konnte. Aber letztlich sind bei Fußballern, Basketballern und uns Handballern viele junge Spieler nun dabei, die unglaublich talentiert sind.
Vor der WM: Wie sieht Bundestrainer Gislason die Entwicklung der Nationalmannschaft?
An welchem Punkt sehen Sie Ihre Mannschaft gerade in der Entwicklung?
Renars Uscins, Justus Fischer, Nils Lichtlein, David Späth – die 2002 und 2003 geborenen Jungs, die U-21-Weltmeister geworden sind, sind ein unglaublicher Jahrgang. Dazu kommt der ebenfalls erst 2003 geborene Marko Grgic. Auch wenn es die nachfolgenden Jungs bis zu den Jahrgängen 2006 bis 2008 es etwas schwieriger haben werden, aber doch immer jemand reinrutschen kann: Die Altersstruktur des Teams gibt uns große Hoffnung, dass es noch weiter nach oben gehen kann. Ich betrachte die Dänen, die Franzosen und die Schweden noch immer als die großen Drei – auch wenn es nicht nur sie zu schlagen gilt für Medaillen. Aber wir sind näher herangekommen, in Paris haben wir das individuelle und mannschaftliche Potenzial gesehen. Aber…
Es gibt ein Aber?
Ja, denn ich glaube, dass die Jungs jetzt auch ein bisschen mehr Druck haben werden. Den werden sie sich selbst schon auferlegen, weil sie nun wissen, zu welchen Leistungen sie imstande sind. Aber die Öffentlichkeit wird nun auch verlangen, diese Erfolge jedes Mal aufs Neue zu bestätigen. Das wird nicht leicht, aber daran müssen sie sich gewöhnen, um mit dieser Erfahrung über die nächsten Jahre noch besser zu werden.
Bekommen Ihre Spieler diese zusätzliche mentale Belastung in den Griff?
Das haben sie mir in Paris schon gezeigt. Vorher hieß es häufig: Die können 40, 50 Minuten auch super spielen, aber die Big Points gegen die großen Mannschaften machen sie nicht. Bei den Olympischen Spielen haben sie genau das aber vier-, fünfmal geschafft. Das Paradebeispiel dafür war das Viertelfinale gegen Frankreich. Nicht wegen des spektakulären Endes mit zwei Toren in zwölf Sekunden, sondern weil das Team nach 25 Minuten mit fünf Toren hinten lag. Da war aber niemand gestresst, dass wir nicht wieder hätten rankommen können. Auch nicht gegen Frankreich – in Frankreich. Das habe ich schon als Zeichen dafür empfunden, dass die Mannschaft immer mehr an sich glaubt.
Was fehlt ihr dann als Letztes, um die Sehnsucht nach dem ersten WM-Titel seit 2007 zu stillen?
Es hört sich zu simpel an, aber: ein bisschen mehr Leistung, ein bisschen mehr Erfahrung. Jeder Spieler, jeder Trainer muss weiter an sich arbeiten. Wenn uns das gelingt, werden wir auch wieder die Chance in einem Finale bekommen.
Knapp fünf Jahre Bundestrainer, aber noch kein Titel: Wurmt Sie das, Herr Gislason?
Als Sie 2020 zum Deutschen Handballbund kamen, wurde Ihnen ein Schild mit der Aufschrift „Unterschiedstrainer“ umgehängt. Weil Sie als Vereinstrainer so erfolgreich waren, mit dem THW Kiel die Champions League gewannen. Ärgert es Sie, dass es seitdem noch nicht mit einem Titel geklappt hat?
Ärgern würde ich nicht sagen, aber so waren die Umstände wegen der Corona-Pandemie. Zur WM 2021 in Ägypten haben sieben erfahrene Spieler abgesagt – so viele wie bei keinem anderen Land. Bei der EM in der Slowakei und Ungarn haben wir wohl einen Weltrekord aufgestellt und aufgrund unzähliger Corona-Infektionen 28 Spieler eingesetzt. Der damals schon begonnene Umbruch und die letzten Turniere geben mir aber schon das Gefühl, dass es mit einem Titel noch etwas werden kann.
Für die bevorstehende WM, die Sie über die Vor- und Hauptrunde im dänischen Herning zu den K.o.-Spielen in Oslo führen soll, haben Sie eigentlich Ihren Wunschkader, erst nach der offiziellen Nominierung mussten Jannik Kohlbacher und Sebastian Heymann absagen.
Diesmal musste ich bei der Nominierung zunächst sogar einigen Spielern absagen. Wir haben nun größtenteils die Spieler aufgeboten, die bei der Heim-EM Vierte wurden und Silber in Paris gewannen. Wir führen diese Kontinuität weiter. Auch wenn wir einige Spieler haben, die aus Verletzungen kommen und vielleicht noch nicht in Höchstform sind. Julian Köster zum Beispiel oder Christoph Steinert. Dass sie aber schon länger zusammen sind, könnte für uns am Ende sehr wichtig sein. Mir ist wichtig, dass viele Spieler im Angriff und in der Abwehr auf dem Parkett stehen können.
Die Fitness ist immer wieder ein Thema im Handball. Es wird lange gespielt, gerade in Deutschland, zwischen dem letzten Bundesligaspiel und dem Beginn der finalen WM-Vorbereitung am 3. Januar lagen nur wenige Tage. Haben andere Nationen, die früher mit der Liga ausgesetzt haben, da einen Vorteil?
Das ist schwer zu sagen, jedes Land hat Nationalspieler in der Bundesliga, vor allem die Skandinavier. Auch die Schweden und Franzosen haben gerade ein paar Verletzte. Dass die Belastung hoch ist, ist klar.
Handball-Bundestrainer Gislason über die Vorrundengegner bei der WM
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Polen, Schweiz und Tschechien sind für Ihr Team alles andere als ein leichtes Auftaktprogramm in Herning. Ihr Team trifft als einziges auf ausschließlich europäische Gegner.
Ja, das ist eine sehr ausgeglichene Gruppe. Die Schweizer kennen wir sehr gut, die Polen und Tschechen haben sehr schnelle Spieler, die stark im Mann gegen Mann in der Abwehr sind. Auch wenn wir zuletzt zweimal die Schweiz klar geschlagen haben, bedeutet das nur, dass wir wieder richtig gute Spiele abliefern müssen. Wenn es nicht gut läuft, kann da jeder jeden schlagen. Wir können nicht sagen: Unser Ziel ist das Finale, vergesst den Weg dorthin.
Umso wichtiger wird es sein, von Beginn an Topleistungen abzurufen und die Punkte für die Hauptrunde einzufahren, in der es dann gegen Dänemark gehen wird.
Extrem wichtig, aber das hatten wir bei den Olympischen Spielen ja auch so. Da war der Auftakt gegen Schweden gleich das erste Endspiel. Hätten wir das nicht gewonnen, wäre es durch die Niederlage gegen Kroatien schon schwierig geworden mit Blick aufs Halbfinale. Wir dürfen nicht glauben, dass es nun leichter werden wird.
Ihre Ankündigung nach Paris, nach der Heim-WM 2027 könnte Schluss sein für Sie als Bundestrainer, haben Sie später noch mal relativiert und sich offen gezeigt für Gespräche bezüglich Ihres Jobs. Schwirrt dieses Thema jetzt für einen langen Zeitraum in Ihrem Hinterkopf mit?
Überhaupt nicht, das Thema ist für mich gerade keines. Ich habe nur festgestellt, dass ich nach 2027, solange ich gesund bin, weiterhin im Handball arbeiten möchte. Noch merke ich aber keinen Verschleiß an mir. (lacht) Ich fühle mich super wohl in Deutschland und mit der Nationalmannschaft.