Dortmund. Im Viertelfinale treffen die beiden bislang besten Mannschaften der EM aufeinander. Wie Deutschland und Spanien eine Dekade prägten.

Es sind besondere Tage für Thomas Hitzlsperger. Immer wieder spricht der ehemalige Nationalspieler derzeit über sein Buch „Mutproben“. Darin erzählt der 42-Jährige, wie er sich vor zehn Jahren als erster Fußballer in Deutschland zu seiner Homosexualität bekannte. Auch an diesem Tag in Dortmund geht es bei einem Talk von VW um dieses Thema. Als er anschließend im Gespräch mit dieser Redaktion auf der Terrasse des Lokals N°3 sitzt, beginnt er mit einem „Puh“ und seufzt leicht grinsend. Denn es geht nicht um sein Coming-out, sondern um das EM-Viertelfinale der deutschen Nationalmannschaft am Freitag gegen Spanien (18 Uhr/ARD und Magenta).

Hitzlsperger stand 2008 in der Startelf, als Deutschland im Endspiel der Europameisterschaft in Wien gegen die Spanier mit 0:1 verlor. Es war der Tag, der den deutschen Fußball grundlegend verändern sollte. „Uns wurde auf dem Platz klar gemacht, wie viel besser Spanien war. Es fühlte sich anders an“, sagt Hitzlsperger, der im zentralen Mittelfeld gegen Xavi spielte, 16 Jahre später. „Man kam einfach nicht an den Ball. Sie hatten immer eine Option, alles war einstudiert. Die Art, wie sie Fußball gespielt haben, war beeindruckend.“

Thomas Hitzlsberger (l.) war im EM-Finale 2008 gegen Spanien und David Silva chancenlos.
Thomas Hitzlsberger (l.) war im EM-Finale 2008 gegen Spanien und David Silva chancenlos. © picture-alliance | Harald Schneider

Vor allem der damalige Bundestrainer Joachim Löw war beeindruckt. Er begann, den Spielstil der Spanier, der in dieser Zeit durch Startrainer Pep Guardiola beim FC Barcelona geprägt wurde, zu adaptieren. „Man hat gemerkt, dass sich Löw die Spanier zum Maßstab genommen hat. Er wollte neue Lösungen mit dem Ball entwickeln. Da waren die Spanier definitiv die Vorbilder“, sagt Hitzlsperger, der 52 Länderspiele für Deutschland bestritt, die meisten davon unter Löw.  

Joachim Löw wollte den Spielstil der Spanier übernehmen

Es begann eine spannende Epoche im Weltfußball, in der sich Deutschland und Spanien um die Spitzenposition stritten. Ein weiterer Wendepunkt war dabei das Halbfinale bei der WM in Südafrika. Wieder verlor Deutschland mit 0:1, wieder war Löws Mannschaft gegen den späteren Weltmeister chancenlos. Und wieder kopierte Löw Elemente der Mannschaft von Vicente del Bosque. Insbesondere die Ballbesitz-Dominanz im Mittelfeld durch Xavi, Andres Iniesta und Xabi Alonso sollte von nun an auch den deutschen Fußball charakterisieren.

Auf dem Weg zum WM-Titel: Carles Puyol hat im Halbfinale gegen Deutschland 2010 das 1:0 für Spanien erzielt.
Auf dem Weg zum WM-Titel: Carles Puyol hat im Halbfinale gegen Deutschland 2010 das 1:0 für Spanien erzielt. © picture alliance | MAXPPP/Kyodo

„Die Nachwuchsausbildung hat sich dadurch verändert“, sagt Hitzlsperger über die neue Philosophie von Löw. Schon damals war auch Ralf Rangnick mit seiner Idee des schnellen Umschaltspiels in Deutschland präsent. „Es gab die zwei Arten, Fußball zu spielen“, sagt Hitzlsperger über die Zeit, in der Löw die Nationalmannschaft auf seine Weise weiterentwickelte und 2014 zum WM-Titel in Brasilien führte. Es war das Turnier, bei dem Spanien schon in der Vorrunde ausschied. Die Mannschaft wirkte gesättigt von drei großen Titeln in Folge. Sie musste sich verändern. Es sollte aber einige Jahre dauern, ehe Spanien wieder zum Titelfavoriten wurde. Nun ist die Nation wieder auf dem alten Niveau, aber mit einem neuen Fußball.

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Mit Blitz, Donner und VAR: Deutschland ist im Viertelfinale

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Thomas Hitzlsperger: „Wir haben unsere Idee aufgegeben“

Spanien hat einen ähnlichen Weg hinter sich wie Deutschland nach dem WM-Titel 2014. Damals verpasste es Löw, im Moment des größten Triumphs neue Reize zu setzen. „Es ist immer die Frage nach einem großen Erfolg, wem es gelingt, stopp zu sagen und zu hinterfragen, wie wir weitermachen“, sagt Hitzlsperger. „Wir haben uns stark an den Spaniern orientiert und unsere Idee ein wenig aufgegeben“, sagt Hitzlsperger.

Den negativen Höhepunkt dieser Entwicklung erlebte Löw im November 2020. In Sevilla verlor Deutschland in der Nations League gegen Spanien mit 0:6. Nie zuvor wurde eine deutsche Mannschaft so zu Grunde gespielt wie an diesem Abend. 23:2 Torschüsse, 812:352 Pässe. Es hätte noch viel höher ausgehen können. Und das, obwohl im deutschen Mittelfeld Toni Kroos und Ilkay Gündogan zusammen spielten. So wie auch heute noch. 

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Spanien hat den Umbruch vollzogen. Rodri, Pedri und Fabian sind die neuen Xavi, Xabi und Iniesta. Hinzu kommt die Flügelzange mit den Jungstars Lamine Yamal (16) und Nico Williams (21). Was bei Deutschland nach Kroos und Gündogan kommt, ist noch offen. Zumindest sind Florian Wirtz und Jamal Musiala schon da. „Jetzt gilt es uns neu zu definieren“, sagt Hitzlsperger. Das sei bei einem Verband wie dem DFB nicht einfach. „Es gibt viele, die mitreden. Unsere Größe steht uns im Weg, wenn es etwa um Entscheidungen in der Ausbildung geht.“

Hitzlsperger lobt Ausbildung in Spanien

Wie man im Fußball optimal ausbildet, hat Hitzlsperger in Spanien erlebt. Nicht in La Masia, der berühmten Akademie des FC Barcelona, sondern in Lezama, der Jugendakademie von Athletic Bilbao. Sie gilt als Vorzeigemodell in Sachen Nachwuchsausbildung im Fußball. Für den baskischen Klub ist Hitzlsperger Vereinsbotschafter. „Wie dort junge Spieler ausgebildet und erzogen werden, ist unfassbar. Die Spieler müssen Trainingsinhalte mitgestalten, müssen mitdenken, müssen viel früher entscheiden. Die kennen dort im Scouting jedes Kind. Die Ausbildung ist einfach besser“, sagt Hitzlsperger.

Der DFB-Reporter

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    Der langjährige Stuttgarter setzt nun darauf, dass die deutsche Mannschaft am Freitag in seiner alten Heimat zumindest für einen Tag die bislang beste Mannschaft des Turniers in den Schatten stellen kann. „Ich freue mich total darauf, bei so einem großen Spiel in Stuttgart dabei zu sein“, sagt Hitzlsperger. Er hofft auf eine Revanche für das EM-Finale 2008. Und im Anschluss an dieses Turnier auf die richtigen Entscheidungen für die Zukunft. Damit Deutschland die Spanier auch in den nächsten zehn Jahren besiegen kann. 

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