Berlin. Vor der Heim-EM spricht Bundesminister Cem Özdemir über das Verhältnis von Fußball und Politik und DFB-Kapitän Ilkay Gündogan.

Bevor das Gespräch über Fußball beginnen kann, trinkt Cem Özdemir noch einmal aus seiner Tasse, auf die ein großes Logo des VfB Stuttgart gedruckt ist. Özdemir erzählt, dass diese Tasse schon beim UN-Klimagipfel zu sehen gewesen sei, als der 58-Jährige digital zugeschaltet war. „Sie begleitet mich als treue Unterstützung“, sagt der Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft. Wie er selbst als Fan den VfB. Vor dem Start der Europameisterschaft spricht der Grünen-Politiker im Interview über das Verhältnis von Sport und Politik, die Bedeutung der Nationalspieler und Ilkay Gündogan, den ersten Kapitän der DFB-Elf, der migrantische Wurzeln hat.

Der DFB-Reporter

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    Woher stammt Ihre Liebe zum VfB Stuttgart, Herr Özdemir?

    Die Auswahl des Herzensvereins erfolgt ja im Regelfall entweder über das Elternhaus oder über die Geografie. Das Elternhaus war es nicht. Mein Vater hielt es mit Besiktas, meine Mutter war eher bei Fenerbahce – und bei mir fiel die Wahl eindeutig auf den VfB. Ich bin in Bad Urach, im Herzen der Schwäbischen Alb, aufgewachsen. Als der VfB 1977 unter Jürgen Sundermann den Wiederaufstieg in die Bundesliga geschafft hat, war klar: Das ist unser Verein und er ist es bis heute geblieben. Für mich ist es eine Riesenehre, wenn ich Hansi Müller und meine anderen Helden von früher, im Stadion treffe. Er war eines meiner Idole.

    Vier Stuttgarter stehen im Kader deutschen Nationalmannschaft für die Europameisterschaft. Haben Sie schon entschieden, welcher Name auf Ihr Trikot kommt?

    Erstmal ist es natürlich eine Sensation, dass wirklich vier Spieler vom VfB in dieser Mannschaft sind. Als Politiker will ich mich an dieser Stelle natürlich nicht in Julian Nagelsmanns Geschäft einmischen, aber ich glaube, dass es auch Alexander Nübel verdient hätte, im Kader zu sein. Ich freue mich riesig für die VfB-Spieler und wünsche ihnen ein tolles Turnier. Dennoch verfolge ich mit ein wenig Sorge, dass sie bei der EM noch mehr ins Schaufenster für andere Klubs rücken könnten. Zu Ihrer Frage: Jeder der vier hätte es natürlich verdient.

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    Gute Chancen hätte Deniz Undav, nehme ich an. 

    Zu ihm habe ich einen besonderen Bezug, weil er wie ich aus einer migrantischen Familie stammt und eine klassische Aufstiegsgeschichte mit sich bringt. Sogar mehr als das: Er gehört der kurdisch-jesidischen Minderheit an. Ich finde, er macht es gerade ganz ganz großartig, wie er Optimismus und gute Laune verbreitet. Sein soziales Engagement, jüngst zu sehen beim Besuch einer Förderschule, zeigt mir zudem, dass er das Herz am rechten Fleck hat.

    Deniz Undav vom VfB Stuttgart.
    Deniz Undav vom VfB Stuttgart. © Jürgen Fromme / firo Sportphoto | Jürgen Fromme

    Dass wir kurz vor der EM ein Interview mit einem Bundesminister veröffentlichen, wird viele Leserinnen und Leser stören. Sie sagen: Nicht schon wieder Politik. Lasst uns doch in Ruhe Fußball schauen. Haben Sie dafür Verständnis?

    Ja, das kann ich sehr gut nachvollziehen. Mir geht es auch darum, ein gutes Fußballspiel zu sehen. Ich will, dass meine Mannschaft gewinnt. Für Politik habe ich Wahlen, Politiker, Parlamente und Sendungen im Fernsehen. Und deshalb sollte man jetzt auch nicht vom Fußball und anderen Sportarten erwarten, dass sie Probleme lösen, die woanders gelöst werden müssen. Ich kann Julian Nagelsmann nicht helfen, wenn er in seiner Mannschaft einen Engpass hat. Und umgekehrt war es zu viel von den Fußballern verlangt, Probleme bei einer Weltmeisterschaft in einem Staat zu lösen, der ein Menschenrechtsproblem hat. Das Bild, in dem sich unsere Mannschaft den Mund zuhält, war insofern sehr unglücklich und wird noch heute den Spielern von Fans der anderen Seite vorgehalten, wenn sie ein Spiel verlieren. Was selbstverständlich auch nicht vergessen werden darf: Fußball findet nicht im luftleeren Raum statt. Die Profis haben eine große Reichweite und von daher darf man als Gesellschaft schon erwarten, dass sie ihrer Verantwortung als Vorbilder gerecht werden. Es gab daher völlig zurecht große Kritik an dem Foto mit Erdogan, und das gleiche könnte man auch über Bilder mit Putin sagen.

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    Am Fall Mesut Özil wurde vor sechs Jahren deutlich, welche gesellschaftspolitische Wirkung die deutsche Nationalmannschaft besitzt. Welche Lehren lassen sich daraus ziehen?

    Mir tut es unglaublich leid und weh, weil Mesut Özil sein Erbe verschleudert hat. Das aber muss er mit sich selbst ausmachen. Die Bilder, die er macht, seine Tattoos, die er zeigt, sind das eine. Da habe ich eine klare Position zu, die ich bereits mehrfach deutlich gemacht habe. Doch es bleibt auch ein genialer Fußballer, der den Fans und dem deutschen Fußball viele tolle Momente beschert hat – umso trauriger ist, was daraus geworden ist. Das kann man nicht mehr ändern. Was wir jedoch sehr wohl beeinflussen können: Dass wir jetzt um die kämpfen und ringen, die sich in dieser Gesellschaft eher die Ilkay Gündogans und Deniz Undavs zum Vorbild nehmen.

    Deutschlands Kapitän: Ilkay Gündogan.
    Deutschlands Kapitän: Ilkay Gündogan. © Jürgen Fromme / firo Sportphoto | Jürgen Fromme

    Ilkay Gündogan, 33, geboren in Gelsenkirchen, Sohn türkischer Einwanderer, ist Kapitän der deutschen Nationalmannschaft. Er macht deutsche Migrationsgeschichte sichtbar. Was bedeutet das Ihnen persönlich? 

    Dass wir darüber reden, zeigt, dass wir noch nicht ganz die Normalität erreicht haben, zu der wir eigentlich hinmüssen. In dieser würde ein Spieler ausschließlich nach seiner Leistung beurteilt, und nicht in einem gewissen Kontext: An einem guten Tag spielt mein Migrationshintergrund keine Rolle, habe ich mal einen schlechten, bin ich ein Migrant. Diese Denkweise sollte der Vergangenheit angehören. Mich erinnert diese Debatte an die Zeit, in der Frauen Berufe ergriffen hatten, die bis dahin Männern vorbehalten waren. Misserfolg wurde dann häufig auf das Geschlecht zurückgeführt. Ich möchte dabei aber eine gute Nachricht in den Vordergrund stellen.


    Bitte.

    Ilkay Gündogan ist ein großartiger Fußballer, der mit Top-Mannschaften Titel gesammelt hat. Dass sich dieser Spieler mit Migrationsgeschichte für die deutsche Mannschaft entscheidet, ist ein Erfolg für deutsche Integrationspolitik und -geschichte – und gleichzeitig ein Misserfolg für Erdogans Versuch, Einfluss zu nehmen und die hier lebenden Migranten dazu zu verleiten, ihre Antennen nach Ankara zu richten.

    Cem Özdemir über Pfiffe gegen Ilkay Gündogan

    Gündogan wurde im November im Länderspiel in Berlin gegen die Türkei gnadenlos ausgepfiffen. Das ist per se kein ungewöhnlicher Vorgang in einem Stadion, doch hatte eben eine tiefere Bedeutung. 

    Wir sind mittendrin in dieser Auseinandersetzung, die viele Menschen mit Migrationshintergrund betrifft. Man erkennt das auch am Wahlverhalten für Erdogan. Hier leben und die Vorzüge der Demokratie genießen, aber jemandem bei türkischen Präsidentschaftswahlen seine Stimme geben, der Menschen foltern lässt, der in einem anderen Land die eigene Bevölkerung bombardiert – das passt doch vorne und hinten nicht zusammen. Allen, die Ilkay Gündogan ausbuhen, weil er sich für Deutschland entschieden hat, kann ich nur sagen: Ihr müsst euch auch entscheiden. Das gilt dann natürlich auch für die AfD, denn die Aussagen ihrer Vertreterinnen und Vertreter kann man nur so verstehen, dass sie eher Putins russischer Nationalmannschaft die Daumen drücken. Ich tue das für die deutsche Mannschaft.

    Nicht nur Ilkay Gündogan musste in den vergangenen Jahren rechte Hetze ertragen. Eine Doku der ARD lieferte erschütternde Ergebnisse. Wie sollte man damit Ihrer Meinung nach umgehen?

    Weil einige die Umfrage an sich kritisiert haben und nicht das, was sie offenlegt, will ich voranstellen: Unbequeme Ergebnisse von Umfragen muss man erstmal aushalten. Sie untermauern die Erfahrungen, die auch frühere Spielergeneration machen mussten. Denken Sie an Gerald Asamoah oder, noch weiter zurück in der Geschichte, an Erwin Kostedde. Was diese Menschen aushalten mussten, da gefriert es mir. Die gute Nachricht aus der Umfrage ist aber: Zwei Drittel der Menschen haben nicht nur kein Problem damit, sondern finden es klasse, dass die Nationalmannschaft ein Spiegelbild der Gesellschaft ist. Bei allem Fanatismus, aller Radikalisierung dürfen wir nicht übersehen, dass die Mehrheit der Gesellschaft in der Mitte nach wie vor zusammensteht.

    Pinke Trikots, unterschiedliche Wurzeln, eine Mannschaft: das DFB-Team vor dem Länderspiel gegen Griechenland.
    Pinke Trikots, unterschiedliche Wurzeln, eine Mannschaft: das DFB-Team vor dem Länderspiel gegen Griechenland. © Ralf Ibing / firo Sportphoto | Ralf Ibing

    Wofür steht die DFB-Elf?

    Für mich ist sie seit der Generation Beckenbauer, ein Arbeiterkind, ein Symbol für das Aufstiegsversprechen. Das zeigt sich auch am aktuellen Kader. Wenn du dich anstrengst und alles gibst, dann kannst du in dieser Gesellschaft vieles erreichen. Für den einen führt der Weg zum Nationalspieler, für den anderen zum Bundesminister. Für manche im Land sind die Sprossen der Aufstiegsleiter immer noch weiter auseinander als für andere. Dennoch unterscheiden die vergleichsweise vielen Möglichkeiten uns von vielen anderen Ländern. Insofern nutze ich dieses Beispiel auch in meiner Arbeit. Aber klar ist auch: Kein Spieler schafft es ohne Unterstützung und Förderung. Und das gilt für alle Kinder. Damit sich Anstrengung wirklich auszahlt, brauchen wir gute Schulen und eine offene Gesellschaft.

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    Das Land wirkt so gespalten wie lange nicht. Kann die EM im eigenen Land trotzdem zu einem Lagerfeuer für die Nation werden?

    Mein Gefühl sagt mir, dass es derzeit im Land eine tiefe Sehnsucht nach positiven Nachrichten gibt. Nach etwas, das uns verbindet. Unser Kader, mit Weltklasse-Spielern, kann für solche sorgen. Und vergessen wir mal nicht: Das Stadion ist immer noch ein Ort, wo Menschen unterschiedlicher Milieus zusammenkommen, die sich sonst leider oft im Leben nichts mehr zu sagen haben. Wo treffen wir denn noch Menschen, die nicht so sind wie wir selbst? Wohnen wir mit ihnen im selben Haus? Oft nicht mehr. Gehen wir auf die gemeinsamen Schulen? Oft nicht mehr. Im Stadion jubeln, trauern und brüllen wir manchmal zusammen, liegen uns mit wildfremden Menschen in den Armen, und insofern ist das Fußballstadion, wenn man so will, eigentlich auch ein Symbol dafür, wie die Gesellschaft sein könnte, mit allen ihren Schatten- und Lichtseiten. Zu den Schattenseiten gehörten lange Zeit rassistische Anfeindungen oder die diskriminierenden Sprüche über Schwule. Das gibt es leider immer noch. Heute kriege ich aber auch mit, dass die Fans in solchen Fällen selbst die Leute, von denen die Sprüche kommen, damit konfrontieren. 

    Würde Ihnen, Herr Özdemir, mehr Freude bereiten, dass Deutschland Europameister wird – oder der VfB Stuttgart kommende Saison Deutscher Meister?

    (lacht) Na beides natürlich! Das hängt doch zusammen, wenn vier Spieler aus Stuttgart dabei sind.

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